Nach Erdbeben in Marokko War die Reaktion der Regierung angemessen?
Die Lage für Zehntausende Menschen im Erdbebengebiet in Marokko bleibt kritisch. Gleichzeitig hält das Misstrauen an. Was lief schief beim Katastropheneinsatz - und was erstaunlich gut?
Der Appell dieses alten Mannes aus der Siedlung Tnirt, nicht weit vom Epizentrum des Bebens entfernt, rüttelte die Öffentlichkeit auf. Während anderen Hinterbliebenen die Worte fehlten, übte der Bergbauer vor laufender Kamera wütende Kritik: "Sind wir keine Marokkaner? Unsere Häuser sind zerstört. Kinder, Enkel sind hier unter den Trümmern begraben, sogar das Vieh."
Die Menschen hätten kein Wasser, keinen Strom, keine Straße mehr, keine Gemeinde. "Die Behörden sind bisher nicht zu uns durchgedrungen. Wer hilft, wenn die Lage noch schlechter wird?", fragte der Bauer. Aber niemand komme ihnen zu Hilfe. "Nur der liebe Gott. Warum? Sind wir keine Marokkaner?"
"Viele Hubschrauber standen zur Verfügung"
Diese Aufnahme des marokkanischen Online-Magazins "hespress" entstand kurz nach dem Beben vom 8. September. Noch hatten die Helfer längst nicht alle der rund 7.000 Dörfer und Häuseransammlungen in den Bergen des Hohen Atlas erreicht. Journalisten mit Kamera waren oft schneller als Hundestaffeln und Bagger.
Gleichzeitig verzichtete Marokko darauf, in großem Stil die Hilfe der Vereinten Nationen oder zahlreicher anderer Staaten anzunehmen und ging zunächst nur auf vier der Angebote ein. Das Motto "Viel hilft viel" passe eben nicht unbedingt zu jeder Katastrophe, deutet der Krisenreaktions-Experte Oliver Hochedez an.
Er bereiste das Erdbebengebiet vergangene Woche im Auftrag von Malteser International und bewertet Marokkos Vorgehen eher positiv: "Was wir gehört haben, ist, dass viele Hubschrauber zur Verfügung standen. Richtig ist auch, dass es kein internationales Hilfeersuchen gab."
Die marokkanische Regierung habe Hilfen angenommen und diese seien gezielt eingesetzt worden. "Insofern liegt die Gesamtkoordinierung des Hilfseinsatzes bei der Regierung hier. Und die hat das in den ersten Tagen vor allem über den Roten Halbmond, das Militär aber auch über den Katstrophenschutz erstmal in die Hand genommen."
"Schritte der Intervention genau festgelegt"
Marokko sei kein gescheiterter Staat, lobte sogar das regierungskritische Politikmagazin "Telquel" das staatliche Krisenmanagement. Anders als Libyen, Mosambik oder Haiti hatte Marokko den Anspruch, die Krise zunächst weitgehend aus eigener Kraft zu bewältigen. Das Land sei gut vorbereitet gewesen, zieht der unabhängige marokkanische Politologe Mohamed Tozy am zwölften Tag nach dem Beben Bilanz.
"Das Management der Krise hat gezeigt, dass die Regierung eine Strategie für solche Katastrophenfälle hatte. Sie stammt aus dem Jahr 2016", sagt der Wissenschaftler. "Darin sind die Schritte der Intervention genau festgelegt. Und ich glaube, das hat Marokko sehr geholfen, diese Katastrophe in den Griff zu bekommen."
Die Öffentlichkeit erfuhr nichts
Doch habe der Fast-Alleingang Marokkos auch Nachteile gehabt, sagen erfahrene Beobachter. Dazu zähle ein Mangel an Kommunikation und an Transparenz. Bei Katastropheneinsätzen unter Führung der Vereinten Nationen gibt es in der Regel sehr bald eine öffentlich zugängliche Datenplattform, Karten, aus denen hervorgeht, wer wo im Einsatz ist, was wo gebraucht wird, wo noch niemand war oder wo Helferinnen und Helfer abgezogen werden können.
Ziemlich sicher verfügt Marokkos Katastrophenschutz ebenfalls über eine solche Informationsquelle. Nur erfuhr davon die Öffentlichkeit nichts. Die Betroffenen selbst verharrten oft am Rande der Trümmer in der diffusen Hoffnung, dass der liebe Gott oder der König schon für sie sorgen würden.
Am Ende entscheidet das Königshaus
Im globalen Demokratieindex gilt Marokko als "moderate Autokratie". Am Ende entscheidet das Königshaus, was geschieht. In Kreisen, die der Monarchie kritisch gegenüberstehen, ist deshalb oft ein generelles Misstrauen gegenüber Maßnahmen der Regierung zu verzeichnen.
In Krisensituationen rächt sich das, weil das Vertrauen in die Rettungsmaßnahmen erst erworben werden muss. Da ist es nicht hilfreich, wenn die Regierung niemandem erklärt, warum Nothelfer aus Großbritannien und Spanien ins Land gelassen werden, die aus Frankreich und Deutschland aber nicht.
Technisches Hilfswerk verteidigt Krisenreaktion
In Marokko jedoch sei vieles richtig gemacht worden, verteidigte der ehemalige Chef des Technischen Hilfswerks, Albrecht Broemme, im ZDF die marokkanische Krisenreaktion: "Marokko hat auch einen vom König gut geförderten Zivilschutz, der sich gut informiert hat."
Der sei gut ausgebildet worden. "Und wir haben ihn auch bei internationalen Trainings erlebt. Ganz hervorragende 'Search & Rescue-Teams'. Gerade für Erdbeben haben sie ausgebildete Spezialtruppen." Katastrophentourismus könne keiner gebrauchen, fügte Broemme noch hinzu. Er würde auch schnell zu Staus führen auf den wenigen Zufahrtsstraßen in die kritischen Regionen im Erdbebengebiet.
Marokkos Katastrophenhelfer weltweit im Einsatz
Vermutlich hat sich noch nicht sehr weit herumgesprochen, dass Marokkos Katastrophenhelfer schon seit Jahren Kriseneinsätze im Ausland bestreiten. Nach der Flutkatastrophe 2019 in Mosambik im südlichen Afrika waren dort sehr schnell auch Zelte aus dem Königreich zu finden.
Das berühmte Feldlazarett des marokkanischen Militärs, das jetzt in der Gemeinde Asni in den Bergen steht und Tausende Erdbebenopfer versorgt, hatte Vorläufer in Afrika und sogar in Europa. Internationale Solidarität könnte sich jetzt vor allem in finanziellen Zuwendungen ausdrücken, wie sie für Notunterkünfte und den Wiederaufbau gebraucht werden. Marokkos Regierung hat bereits erklärt, dass sie sich solchen Zuwendungen nicht verschließen werde.