Offiziere der kanadischen Marine rufen nach einem Besuch der britischen Prinzessin Anne auf HMCS Max Bernays ain North Vancouver mehrmals "Hurra" aus.

Kanada und die NATO "Soft Power" reicht nicht mehr

Stand: 30.07.2024 13:33 Uhr

Kanada verfehlt seit Jahren das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Das soll sich ändern, aber erst bis 2032. Dennoch hat Russlands Krieg gegen die Ukraine Kanada aufgeschreckt - und Moskaus zunehmende Aktivitäten im Nordpolarmeer.

Von den 32 Mitgliedsländern der NATO schaffen mehr als zwei Drittel in diesem Jahr das Zwei-Prozent-Ziel. Dagegen gibt Kanada nur knapp 1,4 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aus. Damit gehört Kanada gemeinsam mit Spanien, Belgien und Italien zu den Schlusslichtern.

Kein Wunder, dass sich Kanadas Premierminister Justin Trudeau kürzlich auf dem NATO-Gipfel in Washington rechtfertigen musste, sein Land sei kein "Trittbrettfahrer" der Allianz:

"Die grobe mathematische Berechnung spiegelt unser wirkliches Engagement einfach nicht wieder. Deshalb haben wir die Zwei-Prozent-Marke als das alleinige Maß für unseren NATO-Einsatz in Frage gestellt."

 

Erhebliche Mehrausgaben

Nach wachsendem Druck aus dem Verteidigungsbündnis kündigte Trudeau am Ende des Gipfels an, Kanada erreiche das Zwei-Prozent-Ziel im Jahr 2032. Allerdings gibt es bis heute keinen konkreten Plan, welche Waffensysteme wann angeschafft werden.

Deshalb bezweifeln kanadische Verteidigungsexperten, ob Kanada das Ziel tatsächlich in den kommenden acht Jahren schaffen kann. "Das ist so viel Geld! Wo soll das herkommen?", sagt Anessa Kimball im Interview mit dem ARD-Studio New York.

Die Direktorin am Zentrum für Internationale Sicherheit in Quebec schätzt, dass Kanada jedes Jahr 30 bis 40 Milliarden Euro mehr für Verteidigung ausgeben müsste als bisher. "Schaffen wir das in acht Jahren? Das bezweifele ich!"

Zu lange an eine friedlichere Welt geglaubt

Die Sicherheitsexpertin aus Quebec sieht in ihrem Land ähnliche Versäumnisse wie in Deutschland. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten konservative wie liberale Regierungen allzu lange an eine friedlichere Welt geglaubt und die Verteidigungsausgaben sogar auf unter ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesenkt.

Auch die Bevölkerung habe die Bedrohung durch Putins Russland unterschätzt: "Die Kanadier sahen keine Gefahr für ihr Land. Viele Wähler fragten: 'Warum überhaupt so viel für Verteidigung ausgeben, wenn wir doch mehr Geld für unser Gesundheitssystem und unsere Infrastruktur brauchen?'"

Arktis zunehmend im Blick

Hinzu komme, so Kimball, die Überzeugung vieler Kanadier: Wenn uns jemand angreift, dann wird uns Amerika schon beschützen. Doch diese Gewissheit bröckelt mit der Aussicht auf einen erneuten Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus.

Auch die immer häufiger im schmelzenden Eis der Arktik kreuzenden russischen und chinesischen Schiffe sorgen für Unruhe. Kanadas Verteidigungsminister Bill Blair will deshalb als erstes die altersschwache kanadische U-Boot-Flotte erneuern und neue Eisbrecher anschaffen.

Vor allem im Nordpolarmeer sieht Sicherheitsexpertin Kimball die künftige Bedeutung Kanadas für die NATO. "Ohne Kanada gäbe es in der NATO weniger Verständnis für die Gefahren in der Arktik. Das wird immer wichtiger, wie man an den Aktivitäten der russischen Flotte sieht."

Ein anderes Selbstverständnis

Aber auch in Europa will sich Kanada in den nächsten Jahren wieder stärker engagieren. Während Deutschland eine Bundeswehr-Brigade in Litauen stationiert, schickt Kanada in den kommenden zwei Jahren 2.200 Soldaten nach Lettland.

Für Sicherheitsexpertin Kimball steht fest: Die Zeiten, in denen Kanada vor allem auf "Soft Power" setzte, sind endgültig vorbei.

Martin Ganslmeier, ARD New York, tagesschau, 30.07.2024 09:18 Uhr