Nach Angriff der Hamas Neue Frist abgelaufen - UN sprechen von Massenflucht
Nach dem Ende einer neuen Evakuierungsfrist berichten die Vereinten Nationen von einer "Massenflucht" in den Süden des Gazastreifens. Krankenhäuser vor Ort warnen unterdessen, dass ihnen bald der Strom ausgehe - und sich die Lage zuspitzt.
Angesichts eines neuen von Israel gesetzten Zeitfensters zur Evakuierung von Gaza-Stadt haben offenbar nochmals viele Menschen das Gebiet verlassen. Das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) erklärte, eine "Massenflucht aus dem Norden in den Süden des Gazastreifens ist im Gange".
Israel hatte Zivilisten zwischen 9 und 12 Uhr MESZ einen sicheren Fluchtkorridor Richtung Süden zugesichert. Ein israelischer Militärsprecher bestätigte in einer Video-Pressekonferenz: "Wir haben eine signifikante Bewegung palästinensischer Zivilisten in Richtung Süden festgestellt." Nahe des Gazastreifens würden sich israelische Soldaten der Reserve "in Formation auf die nächste Phase der Einsätze" vorbereiten. Sie seien rund um den Gazastreifen postiert, im Süden, im Zentrum und im Norden, so der Sprecher.
Krankenhäusern geht Energie aus
Für die Menschen im komplett abgeriegelten Gazastreifen wird die Lage unterdessen immer schwieriger. Es fehlt an Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff. Mediziner vor Ort warnen vor einer Katastrophe mit etlichen Toten in den Krankenhäusern der Küstenenklave. Den Kliniken gehe nach der Abschaltung des einzigen Elektrizitätskraftwerks im Gazastreifen der Treibstoff zum Betrieb von Generatoren aus. Die UN rechnen damit, dass den Krankenhäusern in Gaza noch Treibstoff für etwa zwei Tage zur Verfügung steht.
Auch die Hilfsorganisationen Misereor und Medico International dringen darauf, die Zivilbevölkerung zu unterstützen. "Die Menschen in Gaza können nicht kollektiv für die brutalen Überfälle der Hamas in Haftung genommen werden", sagte Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von Misereor.
Ärzte etwa im Nasser-Krankenhaus in Chan Junis, dem zweitgrößten Hospital des Gazastreifens, berichten, dass Hunderte Menschen mit Explosionsverletzungen in den vergangenen acht Tagen eingeliefert worden seien. Viele Patienten hätten schwere und komplexe Verletzungen und benötigten intensivmedizinische Betreuung. Dutzende müssten intensivmedizinisch behandelt oder künstlich beatmet werden. "All diese Patienten sind in Todesgefahr, wenn die Stromzufuhr endet", erklärte ein Arzt.
Zahl der Toten auf beiden Seiten gestiegen
Nach palästinensischen Angaben wurden seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor einer Woche mindestens 2.670 Menschen im Gazastreifen bei Gegenangriffen getötet. Etwa 9.600 seien verwundet worden, teilte das Gesundheitsministerium der Hamas-Regierung mit. Laut dem palästinensischen Katastrophenschutz werden zudem mehr als 1.000 Menschen unter den Trümmern zerstörter Gebäude vermisst.
Auch Israel meldete gestiegene Opferzahlen nach dem Hamas-Angriff. Mehr als 1.400 Menschen seien bei der Terrorattacke getötet worden, sagte die Sprecherin von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, Tal Heinrich. Bislang hatte die Regierung die Zahl der Toten mit mehr als 1.300 angegeben. Zudem hat die Hamas mehr als 120 Menschen entführt.
Nach Schätzungen der UN wurden in der ersten Woche des Krieges rund eine Million Menschen im Gazastreifen vertrieben. Die tatsächliche Zahl der Binnenvertriebenen liege wahrscheinlich noch höher, da zahlreiche Menschen in dem Küstengebiet weiterhin ihre Häuser verließen, sagte die Sprecherin des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Juliette Touma. Dem israelischen Militär zufolge haben sich inzwischen mehr als 600.000 Bewohner des Gazastreifens auf den Weg nach Süden gemacht. Die Evakuierungen gingen weiter.
Unklarheit über Bodenoffensive
In Israel wird auch die Stadt Sderot komplett evakuiert, wie ARD-Korrespondent Julio Segador berichtet. Die Stadt liegt nur zehn Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Sie wurde wiederholt zum Ziel von Hamas-Raketen, immer wieder mussten die Bewohner Schutzräume aufsuchen. Etwa 10.000 der insgesamt etwa 30.000 Einwohner der Stadt werden nun offenbar mit Bussen nach Eilat in den Süden des Landes gebracht. Tausende haben Sderot bereits im Rahmen eines staatlich finanzierten Programms verlassen.
Wann die erwartete israelische Bodenoffensive beginnen soll, blieb weiter unklar. Die israelische Zeitung "Haaretz" warnte, je länger Israel warte, desto eher werde die Solidarität des Westens mit dem angegriffenen Land schwinden.
Für den Fall eines Einmarsches israelischer Bodentruppen wird eine Ausweitung des Konflikts durch Angriffe der Schiitenmiliz Hisbollah vom Südlibanon auf Israel befürchtet. Irans Außenminister Hussein Amirabdollahian hatte Israel schon am Vortag vor einem "Erdbeben gegen die Zionisten" gewarnt. International wächst die Sorge, dass sich der Konflikt zu einem Flächenbrand entwickelt.
Sperrzone an Grenze zu Libanon
Auch an der nördlichen Grenze zum Libanon spitzt sich die Lage zu. Seit Tagen gibt es dort Gefechte zwischen Bewaffneten der pro-iranischen Hisbollah-Miliz und der israelischen Armee. Es gab Tote auf beiden Seiten. Die israelische Armee erklärte nun einen vier Kilometer breiten Streifen im Grenzgebiet zu einer Sperrzone. Es sei verboten, diese Zone zu betreten. Zivilisten, die in weniger als zwei Kilometern Entfernung von der Grenze wohnen, wurden angewiesen, stets in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben.
Laut syrischen Medienberichten griff die israelische Armee zudem den internationalen Flughafen der nordsyrischen Stadt Aleppo an. Der Betrieb dort sei dadurch zum Erliegen gekommen. Bei dem Beschuss am Samstagabend sei die Start- und Landebahn getroffen worden, berichtete die Tageszeitung "Al-Watan". Erst Stunden zuvor war sie nach einem ähnlichen Angriff Israels vom Donnerstag repariert worden.