Israelischer Militäreinsatz Palästinenser in Dschenin erschossen
Bei einem Einsatz der israelischen Armee in Dschenin sind neun Palästinenser getötet und mindestens 20 verletzt worden. Israel begründete die Razzia mit einem bevorstehenden Terrorangriff. Die Palästinenser fordern ein Einschreiten gegen die "israelische Tötungsmaschine".
Bei Zusammenstößen zwischen israelischen Soldaten und bewaffneten Palästinensern im besetzten Westjordanland sind nach palästinensischen Angaben neun Menschen getötet worden. Mindestens 20 Menschen wurden bei dem Vorfall in Dschenin verletzt, wie das palästinensische Gesundheitsministerium bekannt gab. Bei den neun Toten handelt es sich demnach um eine 60-jährige Frau und acht Männer.
In einer weiteren Erklärung teilte die palästinensische Gesundheitsministerin Mai al-Kaila mit, das israelische Militär hätte ein Krankenhaus in Dschenin "gestürmt und absichtlich Tränengaskanister auf die Kinderabteilung des Krankenhauses abgefeuert". Sie bezeichnete die Situation in dem Flüchtlingslager als "kritisch" und sagte, israelische Streitkräfte hinderten Rettungswagen daran, die Verletzten zu erreichen.
Der Gouverneur von Dschenin, Akram Radschub, sagte der Nachrichtenagentur AP, weil Tränengas ins Krankenhaus eingedrungen sei, hätten Operationen abgebrochen werden müssen.
Rettungskräfte sollen laut palästinensischen Angaben bei ihrer Arbeit, Verletzte zu versorgen, behindert worden sein.
Die bewaffneten palästinensischen Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad sprachen von einem Kampf mit israelischen Soldaten, die in das Flüchtlingslager von Dschenin eingedrungen seien. An den Eingängen zu den engen Gassen des Lagers hätten des Berichten zufolge einheimische Jugendliche Fahrzeuge der israelischen Armee mit Steinen beworfen. Zudem seien Schüsse und Explosionen zu hören gewesen.
Israels Armee: Hinweis auf geplanten Terroranschlag
Das israelische Militär bestätigte einen Einsatz in der Stadt und begründete ihn mit Informationen über einen unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag. Zum Vorwurf, Tränengas eingesetzt zu haben, wurden keine Angaben gemacht. Die Soldaten hätten Mitglieder einer militanten palästinensischen Gruppe mit Verbindungen zur Organisation Islamischer Dschihad festnehmen sollen, hieß es weiter.
Es sei zu einem Feuergefecht gekommen, in dessen Verlauf die Soldaten auf Extremisten gezielt hätten, die Angriffe auf Israelis geplant und ausgeführt hätten. Drei Terrorverdächtige seien "neutralisiert" sowie weitere bei Fluchtversuchen erschossen worden. Mindestens einer der Getöteten sei als Extremist identifiziert worden.
Itamar Ben Gvir, von der Regierungspartei "Jüdische Macht" und Israels neuer Minister für Nationale Sicherheit erklärte: "Ich gratuliere der Bereitschaftspolizei, der Armee und dem Geheimdienst, die einen sehr gelungenen Einsatz in Dschenin hatten. Jeder Terrorist, der versucht, unsere Einsatzkräfte zu verletzen, wird wissen, dass er den Schaden davontragen wird. Wir unterstützen unsere Soldaten im Krieg gegen die Terroristen. Jeder Kämpfer, jeder Polizist, jeder Soldat weiß, dass er die volle Unterstützung der israelischen Regierung, des Ministeriums für nationale Sicherheit und des Polizeikommissars hat."
Ende der "israelische Tötungsmaschine" gefordert
Ein Mitglied des Islamischen Dschihad sagte, man habe sich an die Vermittler früherer Waffenstillstände mit Israel gewandt und davor gewarnt, dass die Gewalt in Dschenin zu einer Eskalation in anderen Gebieten führen könne.
Die Al-Aksa-Märtyrerbrigade, eine mit der Partei des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas verbundene Miliz, teilte mit, einer der jetzt Getöteten habe zu ihren Kämpfern gehört.
Abbas' Büro verurteilte den Vorfall als "Massaker der israelischen Besatzungsregierung im Schatten des internationalen Schweigens". Das palästinensische Außenministerium forderte die internationale Gemeinschaft und die Vereinigten Staaten auf, "unverzüglich" gegen die "israelische Tötungsmaschine" einzuschreiten.
Droht nun ein Raketenangriff der Palästinenser?
Für die palästinensischen Gebiete wurde ein Generalstreik angeordnet. Zudem bereitet sich die israelische Armee laut einem Bericht der Zeitung "Haaretz" auf möglichen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen vor, wo der Islamische Dschihad eine Basis hat.
Dazu sagte der ehemalige General und Chef des Israelischen Zentralkommandos Avi Mizrahi: "Es kann gut sein, dass wir einen sporadischen Raketenbeschuss erleben werden, auf den dann auch reagiert werden muss. Aber ich glaube nicht, dass sich daraus eine größere Militäroperation im Gazastreifen entwickeln wird. Ich glaube nicht, dass irgendeine Partei daran interessiert ist."
Israel verstärkte Razzien nach Attacken und Anschlägen
Dschenin gehört zu den Gebieten im nördlichen Westjordanland, in denen Israel seine Razzien gegen militante Palästinenser verstärkt hat, nachdem Extremisten Messerattacken und andere Anschläge in israelischen Städten verübt hatten. Die anhaltende Gewalt trübt die Aussicht auf eine Wiederbelebung der Gespräche über eine Konfliktlösung zwischen Israelis und Palästinensern.
Mit den Todesopfern von heute stieg die Zahl der in diesem Jahr bislang getöteten Palästinenser im Westjordanland auf 29. Die meisten von ihnen wurden von israelischen Streitkräften erschossen. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem wurden im vergangenen Jahr fast 150 Palästinenser getötet, womit das Jahr 2022 das tödlichste seit 2004 war. Nach israelischen Angaben handelte es sich bei den meisten Toten um Militante, aber auch um Demonstranten und Unbeteiligte.
Streit um das Westjordanland
Israel hat 1967 unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Dort leben heute mehr als 600.000 israelische Siedler. Die Palästinenser beanspruchen aber die Gebiete für einen unabhängigen Staat Palästina mit dem arabisch geprägten Ostteil Jerusalems als Hauptstadt.
Viele Palästinenser betrachten die jüngsten Einsätze als Versuch Israels, seine Herrschaft im Westjordanland zu festigen.
Mit Informationen von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Tel Aviv