Lage der Kurden in der Türkei "Ich will in einem Rechtsstaat leben"
In ihrer Heimat sehen viele türkische Kurden keine Perspektive mehr - vor allem seit der Wiederwahl Erdogans vor einem Jahr. In Deutschland stellen sie eine der größten Gruppen unter den Asylbewerbern.
"Eins, zwei, drei, kick!", ruft Tanzlehrerin Nazli Barutçu und klatscht dabei in die Hände. Die junge Frau trägt ihre langen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz und beobachtet mit ernster Miene, wie ihre Schülerinnen und Schüler sich im Takt amerikanischer Swingklassiker bewegen. "Das war gar nicht schlecht", murmelt sie schließlich und steigt selbst mit ein. Seit fünf Jahren unterrichtet Barutçu mittlerweile Lindy-Hop-Kurse.
2019 zog sie wegen der Liebe aus Istanbul nach Diyarbakir, im Südosten der Türkei, und baute mit ihrem kurdischen Ehemann, einem Programmierer, ihre kleine Tanzschule auf. In Diyarbakir war das damals etwas ganz Neues. Die Region ist bekannt für ihren traditionellen Tanz Halay, der nicht nur auf Hochzeiten getanzt wird, sondern auf fast allen Festen, selbst auf politischen Kundgebungen.
Lindy Hop sprach vor allem ein junges Publikum an, die meisten ihrer Schüler sind zwischen 20 und 35. "Wir haben viel Arbeit investiert und einen Raum geschaffen, wo Menschen atmen können", erzählt sie. "Die Menschen fühlen sich gut, solange sie tanzen."
Ein häufiges Ziel: Deutschland
Doch dieses kurze Gefühl der Leichtigkeit reicht vielen nicht mehr aus. Barutçu erlebt, wie jedes Jahr mehr ihrer Schüler wegziehen. Anfangs in den Westen der Türkei, nach Istanbul oder Izmir, auf der Suche nach mehr Freiheiten und Jobs. Mittlerweile ist Europa das Ziel Nummer eins.
"Es gibt viele Fälle, wo jemand mit dem Tanzen anfängt und dann nach sechs Monaten nicht mehr kommt", erzählt Barutçu. "Weil er oder sie stattdessen einen Sprachkurs besucht oder direkt sagt: 'Ich gehe nach Deutschland.' Das passiert sehr oft."
"Ich will in einem Rechtsstaat leben"
Auch Rojhat Kiran, einer der Schüler, der heute mittanzt, hat das vor. Der 29-Jährige hat Informatik studiert und lernt seit drei Jahren Deutsch, in Eigenregie. Er versucht als Fachkraft, also über ein Arbeitsvisum, nach Deutschland zu kommen - ein komplizierter Prozess, erzählt er.
Er liebe sein Land, aber sehe derzeit keine Chance für sich, weder wirtschaftlich noch auf Grund der politischen Lage in der Türkei. "Ich will in einem Rechtsstaat leben, wo ich mich so entfalten kann, wie ich es möchte. Nach den Wahlen vergangenes Jahr sind etwa 20 bis 25 meiner Freunde nach Deutschland ausgewandert."
Die Folgen der Präsidentschaftswahl
Bei der Präsidentschaftswahl vergangenen Mai setzte sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im zweiten Wahlgang gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der kemalistischen Oppositionspartei CHP durch. Die pro-kurdische Partei DEM, die damals unter anderem Namen antrat, stellte selbst keinen Kandidaten und rief ihre Wähler dazu auf, für Kilicdaroglu zu stimmen. Die Unterstützung endete für viele im zweiten Wahlgang, nachdem der Politiker durch zunehmend ausländerfeindliche Propaganda zu punkten versuchte.
Das Wahlergebnis sei bis heute ein entscheidender Faktor in Bezug auf die Abwanderung, sagt Reha Ruhavioglu, Soziologe und Mitglied der Denkfabrik Kurdish Studies in Diyarbakir. "Hätte die Opposition damals gewonnen, wäre die Migration wahrscheinlich stark zurückgegangen", glaubt er.
Letztes Jahr 60.000 Asylanträge aus der Türkei
Mehr als 60.000 Menschen aus der Türkei, die deutliche Mehrheit davon Kurden, haben 2023 einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Damit sind sie nach Syrern die zweitgrößte Gruppe an Antragstellern. Das ist eine Zunahme von 155 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
"Die Zukunft wurde diesen Menschen politisch und wirtschaftlich zu unsicher", erklärt Ruhavioglu. "Sie verlassen das Land, weil sie nicht wissen: Wie lange muss ich die politische Situation noch aushalten? Wie weit wird der Währungsverfall noch gehen oder wie lange werde ich arbeitslos sein?"
Wer zurückbleibt
Auch eine Wirtschaftskrise belastet die Menschen in der Türkei seit Jahren, egal welcher Herkunft. Die Inflation liegt dauerhaft hoch, aktuell bei rund 67 Prozent. Die Währung büßt seit Jahren stark an Wert zum Euro oder Dollar ein und die Mieten steigen in vielen Städten teilweise monatlich, auch in Diyarbakir.
Die überwiegende Mehrheit, die den kurdischen Südosten verlässt, sei jung und gut qualifiziert. "Wir verlieren immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte", sagt Ruhavioglu. Das sei auch ein Nachteil für die kurdische Politik. "Es fehlen Führungskräfte, auch für die Zivilgesellschaft. Zurück bleiben derzeit die, die es sich nicht leisten können, zu gehen."
Zwangsverwaltung kurdischer Städte
Ein großes Problem sei zudem die sogenannte Zwangsverwaltung. Unter der stehen die meisten kurdisch geprägten Städte seit Jahren. Auch nach den letzten Kommunalwahlen 2019 wurde ein gewählter Bürgermeister nach dem nächsten - oft unter fadenscheinigen Vorwürfen - angeklagt, verhaftet und schließlich abgesetzt.
Die Zwangsverwalter sind Beamte, eingesetzt von Erdogan. Viele Kurdinnen und Kurden befürchten, dass dies auch nach den jetzt anstehenden Kommunalwahlen am Sonntag wieder der Fall sein wird - ein Teufelskreis. "Das entmutigt die Menschen natürlich, zur Wahl zu gehen", erklärt Ruhavioglu. "Es ist als würde man sagen: Ihr habt kein Recht auf politische Teilnahme, der Wählerwille wird drei Monate später sowieso für nichtig erklärt."
Wiederholung statt Aufbau
In der Tanzschule macht sich Barutçu ebenfalls Gedanken, was die nächste Zeit für sie bringt. Auch bei ihr kommen immer mal wieder Gedanken, Diyarbakir zu verlassen. Vielleicht nicht gleich ins Ausland, aber zumindest zurück nach Istanbul oder eine andere Stadt im Westen des Landes.
Denn die Schüler werden weniger - und vor allem: Sie wechseln ständig, "Man findet sich gerade als Gruppe zusammen, aber da ist dieser ständige Wechsel an Menschen", erzählt sie. "Und dadurch fühlt es sich für mich so an, als würde ich die gleiche Sache ständig wiederholen, anstatt gemeinsam etwas aufzubauen. Das ist traurig, auch weil es nicht nur meine Arbeit hier betrifft, sondern auch mein soziales Umfeld." Vorerst will sie bleiben, sagt sie. Hoffnung ist bei ihr noch da.