Befreiung von Auschwitz "Wir hatten keine Zeit zu weinen"
Iwan Martynuschkin war dabei, als die Rote Armee das Lager Auschwitz befreite. Damals war er 21 Jahre alt. Heute wird er in Russland als Kriegsheld gefeiert - und teilt seine Eindrücke von vor 75 Jahren.
Von Martha Wilczynski, ARD-Studio Moskau
Wie viele Interviews er russischen und auch internationalen Medien schon gegeben hat? Iwan Martynuschkin winkt ab, mit einem Lächeln, als sei es nicht wichtig. Der 96-Jährige ist auch diesmal bereit, alle Fragen zu beantworten. Er ist Kriegsheld, Veteran der Roten Armee und Befreier von Auschwitz.
Im Alter von 21 Jahren war Iwan Martynuschkin bei der Befreiung des Lagers Auschwitz dabei.
"Sie verstanden, dass sie jetzt frei sind"
Dass diese eine Frage früher oder später kommen muss, ist ihm, einem der letzten Zeitzeugen, klar: Was ging in ihm vor, als er am 27. Januar 1945 gemeinsam mit seinen Kameraden der Roten Armee in das Konzentrationslager Auschwitz vorrückte?
Als wir dieses KZ betraten, hatten wir schon alle Schrecken des Krieges gesehen. Wir erlaubten uns keine Atempause, wir hatten keine Zeit zu weinen. Wir mussten stets kampfbereit sein. Häufig fragen mich Journalisten danach, wollen von mir hören, 'ja, ich bin in Ohnmacht gefallen', habe 'es' gespürt. Das kann man natürlich nicht sagen. Wir haben es gesehen, uns war klar, in welcher Not die Menschen waren. Aber vor allem ging es darum, voranzukommen, vorwärts, vorwärts, in die Offensive.
Trotzdem haben sich die Bilder in sein Gedächtnis gebrannt. Er erzählt von den abgemagerten Häftlingen, die mit rußgeschwärzten Gesichtern, in dicke Lumpen gehüllt an den Zäunen standen. Aber der Veteran erinnert sich auch an ein Gefühl der Hoffnung. "In ihren Augen haben wir Freude gesehen", sagt er. "Sie verstanden, dass sie jetzt frei sind. Wir waren froh, dass wir eine gute Tat vollbracht und die Menschen aus dieser Hölle befreit haben."
Doch das volle Ausmaß dieser Hölle konnte Martynuschkin, der damals 21 Jahre alt war, noch nicht begreifen. Erst einige Jahre später, als die Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher in Nürnberg bereits liefen, wurde Martynuschkin bewusst, was er da in Auschwitz gesehen hatte. "Von diesem Moment an, begann ich darüber zu reden. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, wie ich zu meinen Eltern ging und sagte, dass ich bei der Befreiung des Lagers dabei war."
"Alles heizt sich wieder auf"
An der Tür seines Kleiderschranks hängt sein dunkelgrünes Jackett, voll mit Orden und Abzeichen. Auch ein polnischer Orden ist dabei. Ihn hervorzuheben, scheint in Zeiten, in denen Russland und Polen auf höchster Ebene um die Deutung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs streiten, besonders wichtig.
Die aktuelle politische Lage macht dem Kriegsveteranen Martynuschkin generell Sorgen: "Man spricht über neue Waffen, demonstriert neue Waffen. Alles heizt sich wieder auf, anstatt abzukühlen. Eine Stimmung der Angst, Unruhe und der Spannungen - leider ist sie da."
In den Regalen stehen neben alten schwarz-weiß Fotografien von Martynuschkin als junger Rotarmist auch Farbfotos von ihm mit Präsident Wladimir Putin. Das Gedenken an die Ereignisse von damals und an die Opfer des Krieges verbindet sie. In diesem Jahr sollen die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland besonders groß ausfallen.
Baustein für das Bild der gemeinsamen Geschichte
Und auch, wenn sich Martynuschkin seiner besonderen Rolle bewusst ist, bleibt er bescheiden und betont, dass er nur einen der vielen Bausteine beisteuern kann, aus dem sich das Bild der gemeinsamen Geschichte zusammensetzt:
Als ich mit Putin zu der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nach Krakau flog, war eine ehemalige Gefangene mit dabei. Während des Flugs erzählte ich dem Präsidenten, wie wir Soldaten uns diesem Konzentrationslager näherten, und sie konnte all die Details aus dem Lager erzählen. Sie erzählte uns von französischen Frauen, die zum Tod geführt wurden, dies begriffen und die Marseillaise sangen. Sie schilderte viele solcher Szenen aus dem Lager.
Anders als damals wird Putin in diesem Jahr nicht an der Gedenkfeier in Auschwitz teilnehmen. Zu tief ist der Riss zwischen Russland und Polen im politischen Streit um die "historische Wahrheit".