Wegen Corona-Krise EU setzt Defizitregeln aus
Es ist ein historischer, beispielloser Schritt: Um den Folgen der Corona-Krise zu begegnen, will die EU-Kommission die Defizitregeln für die Mitgliedsstaaten aussetzen. Damit können diese sich in unbegrenzter Höhe verschulden.
Wegen der Corona-Krise will die EU-Kommission die europäischen Regeln für Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten bis auf Weiteres aussetzen. Erstmalig aktiviere die Behörde "die allgemeine Ausweichklausel" im EU-Stabilitätspakt, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Videobotschaft auf Twitter.
"Der Schritt bedeutet, dass nationale Regierungen so viel Liquidität wie nötig in die Wirtschaft pumpen können". Zustimmen müssen noch Europas Finanzminister. Sie tagen am Montag.
"Dramatische Folgen"
Die Corona-Krise habe "dramatische Folgen für unsere Wirtschaft", sagte von der Leyen. "Die allermeisten Branchen sind über kurz oder lang betroffen." Die EU wolle deshalb "alles Notwendige tun", um Bürgern und Unternehmen beizustehen. "Um das zu ermöglichen, mildern wir vorübergehend die sonst sehr strengen Haushaltsregeln ab", sagte von der Leyen weiter. "Das wurde noch nie zuvor gemacht."
Stabilitätspakt enthält Ausnahmeregelungen
Wegen der Corona-Krise hatte die Kommission schon vergangene Woche beschlossen, dass sie eine Klausel im Stabilitätspakt für außergewöhnliche Umstände wie Naturkatastrophen nutzt. Diese erlaubt Flexibilität bei der Prüfung der Defizite der Mitgliedstaaten.
Der Europäische Fiskalpakt mit seinen EU-Konvergenzkriterien geht auf den Vertrag von Maastricht (1992) zurrück. Deshalb werden die Defizitregeln oft auch "Maastricht-Kriterien" genannt.
Im Kern bestehen sie aus zwei Regeln:
- die Neuverschuldung eines Landes darf pro Jahr nicht über 3% des Bruttoinlandsproduktes liegen
- die Gesamtverschuldung darf nicht höher als 60% des Bruttoinlandsprodukts sein.
Allerdings verstoßen zahlreiche Mitgliedsländer gegen diese Regeln, vor allem die Gesamtverschuldung liegt in vielen Fällen deutlich über 60%.
Der Fiskalpakt gilt prinzipiell für alle EU-Mitgliedsstaaten, für die Euroländer ist er allerdings unmittelbar bindend.
Kommission befürchtet Abschwung wie 2009
Angesichts der Ausmaße der Corona-Krise reicht dies aber absehbar nicht aus. Denn: die erwartete Rezession infolge der Krise könnte für die Europäische Union nach Einschätzung der EU-Kommission deutlich heftiger ausfallen als zunächst gedacht. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung könnte 2020 vergleichbar mit dem Abschwung im Jahr der Wirtschaftskrise 2009 sein, teilte die EU-Kommission mit. Damals war die Wirtschaft in der EU um 4,3 Prozent geschrumpft und in der Eurozone um 4,5 Prozent.
Lob aus Italien
Der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, begrüßte "die Entscheidung, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auszusetzen". Dies gebe den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Bürger vor der Corona-Krise zu schützen, schrieb der Italiener auf Twitter.
Von der Leyen schloss angesichts der dramatischen Lage auch die gemeinsame Ausgabe von Anleihen durch die Euro-Länder nicht aus. "Wir gucken alle Instrumente an", sagte sie im Deutschlandfunk. "Und das, was hilft, wird eingesetzt." Das gelte auch für sogenannte Corona-Bonds. "Wenn sie helfen, wenn sie richtig strukturiert sind, werden sie eingesetzt."
Italiens Regierungschef Giuseppe Conte hatte solche Corona-Bonds Diplomaten zufolge bei der Video-Konferenz der Staats- und Regierungschefs am Dienstag vorgeschlagen. Er habe gewarnt, dass die Krise ohne "gemeinsame Antwort" der Europäer "tödlich für uns" sein werde.
Italien steht auf der Kippe
Italien ist bisher das durch die Pandemie am schwersten getroffene europäische Land und nach Griechenland der am stärksten verschuldete EU-Staat. Die Gesamtverschuldung Roms lag schon vor der Corona-Krise über 130 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Deutschland gegen Eurobonds
Deutschland hat eine Vergemeinschaftung von Schulden europäischer Länder über sogenannte Eurobonds in der Vergangenheit immer abgelehnt. Nach Angaben aus EU-Kreisen könnten die "Corona-Bonds" aus gemeinsamen Mitteln der Europäischen Investitionsbank bestehen, die durch den Euro-Rettungsfonds ESM garantiert werden. Ziel wäre es dabei, Spekulationen gegen Italien wegen der nun weiter steigenden Schuldenlast zu verhindern.