EU-Flüchtlingsgipfel in Brüssel Neue Vorschläge, neue Forderungen
Die Türkei hat auf dem Flüchtlingsgipfel offenbar weitreichende Vorschläge gemacht: Dem Vernehmen nach will sie künftig alle Flüchtlinge, die über die Ägäis kommen, zurücknehmen, wenn Europa dafür schutzberechtigte Syrer legal aufnimmt. Außerdem will Ankara mehr Geld zur Versorgung der Flüchtlinge.
Die Türkei hat - für alle Beobachter überraschend - beim EU-Sondergipfel in Brüssel weitreichende Vorschläge zur Eindämmung der unkontrollierten Zuwanderung in die EU gemacht. Dem Vernehmen nach will Ankara bereits ab Ende dieses Monats alle Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Griechenland und damit in die EU kommen, zurücknehmen - wenn Europa im Gegenzug für jeden zurückgenommenen Flüchtling ihrerseits schutzberechtigte, bereits in der Türkei registrierte Syrer auf legalem Wege aufnimmt. Derzeit sollen knapp drei Millionen Syrer in der Türkei registriert sein.
Bislang wehren sich zwar die meisten EU-Länder gegen einen europaweiten Mechanismus, der syrische Kriegsflüchtlinge auf die EU-Staaten verteilt. Allerdings wurde schon die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien beschlossen, von denen aber lediglich 872 Menschen tatsächlich verteilt worden sind. Statt nun alle übrigen 159.000 Flüchtlinge EU-intern zu verteilen, sollen jetzt der Türkei Flüchtlinge abgenommen werden, hieß es aus Delegationskreisen.
Die Vorschläge der Türkei auf dem EU-Flüchtlingsgipfel:
- Die Türkei verlangt von der EU zusätzliche drei Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen. Die ersten drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei bereits bis Ende 2017 in Aussicht gestellt. Im Land halten sich derzeit 2,7 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Die Verdoppelung der Hilfen soll bis Ende 2018 beschlossen werden.
- Türkische Bürger sollen bereits ab Ende Juni ohne Visum in die Staaten des Schengen-Raums reisen können. Bisher ist dies erst für Oktober vorgesehen - und auch nur, falls die Türkei ein ab Juni wirksames Rücknahmeabkommen umsetzt. Dies sieht vor, dass die Türkei illegal in die EU eingereiste Migranten zurücknimmt.
- Die Regierung in Ankara bietet der EU an, bereits vor Juni zu verabreden, dass alle Migranten in die Türkei zurückschickt werden, die ohne Erlaubnis zu den griechischen Inseln gereist sind - ganz egal, ob diese Menschen Aussicht auf Asyl haben oder nicht. Für jeden zurückgesandten Syrer würde die EU einen syrischen Flüchtling auf legalem Weg einreisen lassen. Die Regelung soll Flüchtlingen den Anreiz nehmen, sich Schlepperbanden anzuvertrauen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Türkei nicht zu stark belastet wird.
- Außerdem fordert Ankara beschleunigte Beitrittsverhandlungen mit der EU. Die Türkei ist seit 1997 ein Kandidatenland, die Gespräche steckten bis vor kurzem aber fest.
Quelle: dpa
Zuversicht in Brüssel
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zeigte sich mit Blick auf die neue Initiative Ankaras zuversichtlich: "Die Atmosphäre war besser als erwartet. Die Staats- und Regierungschefs sind bereit, eine Lösung zu finden." Am späten Nachmittag beugten sich die Delegationen über den Vorschlag, beim Abendessen sollten sie dann mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu das weitere Vorgehen beraten.
Der Vorschlag aus Ankara sei sehr weitreichend, sagt ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause in Brüssel. Damit werde die EU-Außengrenzen geschützt und der Gemeinschaft ermöglicht, zum "Schengen-System der offenen Grenzen zurückzukehren". Was Ankara im Gegenzug von der EU verlangt, ist noch nicht klar: Aus Diplomatenkreisen verlautete, es gebe zusätzliche türkische Anträge. Dabei gehe es um eine Beschleunigung von Visaerleichterungen und bessere Bedingungen für Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei.
Ankara braucht mehr Geld für Flüchtlinge
Außerdem beantragte Ankara offenbar deutlich mehr Geld: Die Summe von drei zusätzlichen Milliarden Euro stehe im Raum, heißt es aus Brüssel. Das Geld solle bis Ende 2018 fließen und ausschließlich zur Versorgung von Flüchtlingen verwendet werden, erklärt Krause. Es handele sich nicht um eine Gegenleistung für die jetzt gemachten Vorschläge.
Feilschen um Formulierungen
Begonnen hatte der Gipfel noch mit neuem Streit über die Balkanroute. Dabei geht es um die Formulierung im Entwurf der Abschlusserklärung:
Der irreguläre Strom von Migranten auf der Westbalkanroute kommt zu Ende. Diese Route ist jetzt geschlossen.
Allerdings ist diese Formulierung im Kreis der 28 EU-Staaten umstritten, weil sie so interpretiert werden könnte, als würden alle EU-Staaten die Abriegelung der griechisch-mazedonischen Grenze gutheißen, an der mehr als 10.000 Flüchtlinge gestrandet sind. Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wollen daher die Formulierung ändern.
Es könne nicht darum gehen, dass irgendwelche Grenzen geschlossen würden, sondern dass gemeinsam mit der Türkei eine Lösung gefunden werde, machte Merkel klar. Die Zahl der ankommenden Migranten müsse sich für alle EU-Staaten verringern, einschließlich Griechenland.
Österreich für "klare Sprache"
Viele Länder setzen dagegen darauf, dass die Strecke über den Balkan geschlossen bleibt und die Flüchtlinge aus Griechenland nicht weiterkommen. Er sei für "eine klare Sprache", sagte Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann. Wenn der Gipfel dazu auffordere, das "Durchwinken" zu stoppen, heiße das in seiner Sprache, "die Route ist geschlossen". Das setze das entscheidende Signal: "Schlepper sollen keine Chance haben."
Auch Frankreichs Staatschef François Hollande sagte zu der Balkanroute: "Sie ist geschlossen, damit wird Griechenland den wesentlichen Teil der Flüchtlinge nehmen." Die EU-Partner müssten Griechenland helfen "und verhindern, dass weiter Flüchtlinge in Griechenland ankommen, deswegen müssen wir mit der Türkei zusammenarbeiten."
Ende des "Durchwinkens"
Ist dieser Streit mehr als ein Feilschen um Formulierungen? Schon beim Flüchtlingsgipfel vor zwei Wochen hatten die Staats- und Regierungschefs erklärt, die Politik des "Durchwinkens" Hunderttausender Flüchtlinge von Griechenland nach Mitteleuropa müsse ein Ende haben, auch die Bundesregierung hatte vom "Ende der Politik des Durchwinkens" gesprochen. Nach den Dublin-Regeln müssen Asylverfahren in dem EU-Staat stattfinden, in dem die Flüchtlinge ankommen.
Faktisch bedeutet das "Ende des Durchwinkens" daher die Schließung der Balkanroute. Das EU-Land Griechenland wäre die Endstation, was es ja derzeit für Tausende auch ist. Griechenland forderte daher einmal mehr Solidarität der EU-Partner ein. "Das ist nicht das Problem eines einzelnen Landes, sondern ein europäisches Problem", sagte Alexis Tsipras in Brüssel. Leider seien seit dem vergangenen EU-Gipfel Vereinbarungen getroffen worden, die nicht für alle gelten, sagt er mit Blick auf die Abschottungsmaßnahmen Österreichs und der Länder auf dem Westbalkan.