Deutsche EU-Ratspräsidentschaft "Eine Frage von Management und Diplomatie"
Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft - und steht mit Corona-Krise und Brexit vor einem Mammutprogramm. Im Interview schildert der deutsche EU-Botschafter Clauß, wie die Herausforderungen zu bewältigen sein könnten.
tagesschau.de: Wie hat Corona schon jetzt die deutsche Ratspräsidentschaft verändert?
Michael Clauß: Wir haben unser Präsidentschaftsprogramm wegen der Corona-Krise fast vollständig umbauen müssen. Drei Themen stehen nun im Zentrum: Krisenmanagement, Exit-Strategie und wirtschaftlicher Wiederaufbau.
Gleichzeitig haben wir die Zahl der physischen Treffen aufgrund der Ansteckungsgefahr massiv reduzieren müssen. Wegen der Corona-Pandemie haben wir in den letzten dreieinhalb Monaten viele Verhandlungen nur per Videokonferenz durchführen können. Leider sind Videokonferenzen nicht so effizient wie physische Treffen.
tagesschau.de: Was bedeutet das konkret angesichts der großen Themen, die vor Ihnen liegen?
Clauß: Das bedeutet, dass wir mit verminderter Kapazität noch mehr Themen bewältigen müssen. Das klingt ein bisschen wie die Quadratur des Kreises. Wir versuchen uns zu helfen, indem wir die Zahl der Sitzungen so weit wie unter Gesundheitsaspekten vertretbar steigern. Zudem setzen wir verstärkt Videokonferenzen an und versuchen sie interaktiver und effizienter zu gestalten. Aber da sind technisch gewisse Grenzen gesetzt.
tagesschau.de: Wie viele dieser Problemfelder halten Sie inzwischen für geregelt?
Clauß: Die Systeme laufen jetzt stabiler. Für die physischen Treffen haben wir jetzt einige Räume mehr zur Verfügung als noch zu Beginn der Krise.
Dennoch sind wir bislang noch sehr weit vom Vorkrisenniveau entfernt. Es gibt in den Ratsgebäuden nicht ganz so viele Räume, die darauf ausgelegt sind, dass sich Vertreterinnen und Vertreter von 27 Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission unter "Social Distancing"-Bedingungen treffen können. Derzeit arbeiten wir aber intensiv daran, dass vielleicht schon im Verlauf des nächsten Monats wieder erste Treffen auf politischer Ebene in Brüssel durchgeführt werden können.
tagesschau.de: Als Ständiger Vertreter müssen Sie einerseits vermitteln, dürfen andererseits die Interessen Deutschlands nicht vernachlässigen. Wie kriegt man das hin?
Clauß: Das ist eine Frage des Managements und der Diplomatie. Man ist in der EU mit seiner Position nur selten allein. Es gibt häufig auch andere Mitgliedstaaten, die unsere Haltung teilen oder eine ähnliche Haltung haben.
Auch durch Agenda-Management können wir ein wenig gestalten. Man kann ein Thema beschleunigen oder verlangsamen, gewisse Steuerungsmöglichkeiten gibt es. Es ist, wie Außenminister Maas gesagt hat: Wir müssen Motor und Moderator sein.
Anderenfalls würden wir den Rückhalt im Rat verlieren und könnten dann keine Ergebnisse erzielen. Unsere Partner werden uns daran messen, ob es uns gelingt, Kompromisse zu erzielen und die EU voranzubringen. Dabei wird durchaus erwartet, dass die Ratspräsidentschaft ihre nationalen Interessen im Interesse der Sache ein Stück zurücknimmt, ohne sie komplett zu vernachlässigen.
tagesschau.de: Wo liegen besondere Herausforderungen?
Clauß: Ganz im Vordergrund stehen die Bekämpfung der Corona-Pandemie und der Pandemiefolgen.
Die Corona-Pandemie hat bereits jetzt zu massiven Schäden in unseren Volkswirtschaften mit entsprechenden sozialen Verwerfungen geführt. Um die negativen Auswirkungen der Krise zu begrenzen, setzen wir uns für einen raschen Abschluss der Verhandlungen über den EU-Haushalt sowie den Wiederaufbaufonds ein.
Eine andere Herausforderung heißt Brexit. Hier müssen wir unseren Beitrag dazu leisten, dass die EU in den Verhandlungen mit Großbritannien zusammenbleibt und einig auftritt.
tagesschau.de: Das ist ein großes Programm, gleichzeitig gibt es enorme Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft. Wie gehen Sie damit um?
Clauß: Das lässt mich schon jetzt schlecht schlafen, weil ich glaube, dass die Erwartungen an uns sehr hoch sind. Bei einigen vielleicht zu hoch. Und natürlich sind wir auf die Kompromissbereitschaft anderer EU-Länder angewiesen, so ist das immer in Brüssel. Aber ich bin zuversichtlich, dass alle sich der großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen bewusst sind.
Das Interview führte Michael Grytz, ARD-Studio Brüssel