Schicksalssjahr 2019 Europa hat die Wahl
Die EU hat die Herausforderungen der vergangenen Jahre weitgehend gemeistert - 2019 stehen mit dem Brexit und der Europawahl neue Herausforderungen an, die über die Zukunft der Union entscheiden.
Nur noch rund fünf Monate, dann haben wir EU-Bürger wieder die Wahl. Wenig deutet allerdings darauf hin, dass das Ergebnis günstiger ausfallen könnte als 2014. Es stimmt zwar: die Finanz- und Schuldenkrise wurde in der Ära Juncker weitgehend überwunden; die Wirtschaftsdaten der meisten Mitgliedsländer entwickeln sich positiv.
Die 2015 mit Wucht hereingebrochene Flüchtlingskrise wurde wirksam eingedämmt. Befriedigend gelöst - im Sinne eines solidarischen, gesamteuropäischen Asylrechts oder einer umfassenden Reform der Wirtschafts- und Währungsunion - sind die Probleme aber keineswegs.
Brexit und EU-Wahl als Herausforderungen
Dafür verdunkeln inzwischen neue Wolken den Horizont: Mit Großbritannien wird im Frühjahr erstmals ein Mitgliedsland die Gemeinschaft verlassen, wenn es schlecht läuft sogar unter chaotischen Begleitumständen.
In Italien testet derweil ein Bündnis ultrarechter und linksalternativer Hasardeure die Grenzen der ökonomischen Vernunft aus. Und obendrein droht ein erbitterter Streit um europäische Grundwerte - Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit - die EU zu spalten. Ausgerechnet Polen und Ungarn, die in den 1980er-Jahren das Ende der Teilung Europas herbeiführten, legen mit ihrem illiberalen, nationalistischen Kurs nun die Axt ans Fundament seiner Einheit.
Reformbemühungen im Keim erstickt
Damit nicht genug: Der noch 2017 als Erneuerer Europas und Anti-Trump gefeierte französische Präsident Emmanuel Macron steht vor einem Scherbenhaufen. Daheim drohen die revoltierenden "Gelbwesten", seine Reformerfolge zunichte zu machen.
In der EU haben die Zauderer Angela Merkel und Olaf Scholz seine ehrgeizigen Ideen für einen festeren Euro, eine strategisch autonome Union und ein starkes Europa, das seine Bürger schützt und in wesentlichen Fragen mit einer Stimme spricht, fast sämtlich ins Leere laufen lassen. Statt nach Aufbruch riecht es derzeit eher nach Abwicklung.
Emmanuel Macron und Angela Merkel konnten bei den EU-Reformen keine Einigung finden.
Noch glaubt die Mehrheit an Europa
Einziger Lichtblick: Die EU hat sich in all den Turbulenzen rückblickend doch als erstaunlich robust erwiesen. Jüngste Umfragen zeigen, dass in den meisten Ländern die Stimmung durchaus europafreundlich ist. Zwei Drittel der EU-Bürger und sogar drei Viertel aller Deutschen sind der Ansicht, dass ihr Land von der Mitgliedschaft profitiert.
Als wichtigen Grund führen die Meinungsforscher interessanterweise den Brexit an, der wie ein Weckruf gewirkt und den Menschen schlaglichtartig bewusst gemacht hat, dass die Flucht in Nationalismus kein probates Mittel ist, die komplexen Probleme der Gegenwart zu lösen.
Beim Brexit Einigkeit bewiesen
Die Art, wie die 27 Staaten im Brexit-Drama, im Handelsstreit mit den USA oder bei der Verlängerung der Russland-Sanktionen zusammenstanden und die gemeinsamen Interessen verteidigt haben, zeigt den Weg auf, der die auseinanderdriftende Union aus der Sackgasse führen könnte. So gibt es Anzeichen, dass sowohl im Haushaltsstreit mit Italien als auch im Konflikt um die fragwürdige polnische Justizreform eine Einigung in Reichweite ist.
Noch mehr konkrete Ergebnisse müssen her, die die Menschen wieder vom Sinn und Nutzen der Gemeinschaft überzeugen - mehr Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik etwa, notfalls auch im kleineren Kreis: eine schlüssige Strategie für die Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimaschutzes, wirksame Maßnahmen gegen Steuertricks der Internetgiganten und die skandalös hohe Arbeitslosigkeit in vielen Ländern des Südens.
Deutschland muss sich mehr einbringen
Und damit die EU, die uns jahrzehntelang Frieden, Wohlstand und Stabilität beschert hat, nicht auseinanderfällt, muss auch das reiche und mächtige Deutschland in den anstehenden Verhandlungen über den mehrjährigen EU-Haushalt Kompromisse machen.
Ein fataler Irrtum wäre es zu glauben, man könnte die Dinge einfach laufen lassen, nur weil bis jetzt alles glimpflich ausgegangen ist. Eine Bestandsgarantie, das zeigen die jüngsten Entwicklungen, gibt es für das Jahrhundertexperiment Europäische Union nämlich nicht.
Und auch, wenn große Sprünge nach vorn derzeit unmöglich erscheinen, kleine, aber entschlossene Schritte in die richtige Richtung, wie sie die EU in Krisenzeiten stets vorangebracht haben, tun sehr wohl Not. Noch hat Europa die Wahl.