Nach Polizeigewalt in Frankreich Schweres Zerwürfnis zwischen Polizei und Justiz
Gibt es ein Sonderrecht für Polizisten? Darüber streitet Frankreich, seitdem ein Polizist in Untersuchungshaft sitzt. Er soll im Einsatz brutale Gewalt gegen einen jungen Mann ausgeübt haben. Der Protest vieler Polizisten ist vehement.
Hedi spricht ruhig in die Kamera. Der Kopf des 21-Jährigen, dessen Familie aus dem Maghreb stammt, ist deformiert. Links fehlt ein Teil des Schädelknochens. Hedi, der bis zu seinen Verletzungen in der Gastronomie arbeitete, erzählt dem Team der Medienplattform Konbini von der Nacht auf den 2. Juli, die sein Leben brutal verändert hat.
Er und seine Freunde seien an dem Abend in Marseille - einem Hotspot der Unruhen nach dem Tod des 17-jährigen Nahel M. bei einer Verkehrskontrolle in der Nähe von Paris - der Spezialeinheit BAC über den Weg gelaufen. Es habe einen Wortwechsel gegeben.
Als Hedi sich wegdreht, spürt er einen heftigen Schlag am Kopf. Wie sich später herausstellen wird, hatte ihn ein Gummigeschoss aus einer Polizeiwaffe getroffen. Anschließend hätten die Polizisten ihn in eine dunkle Ecke geschleift, berichtet der junge Mann:
Dort haben sie mich verprügelt. Einer saß auf mir. Sie haben mit den Fäusten, mit dem Knüppel auf mich eingeschlagen, mir den Kiefer gebrochen. Man hat mich nicht einmal nach meinen Papieren gefragt, wie ich heiße, was ich da mache.
Screenshot der Medienplatform Konbini, auf der Hedi über die Ereignisse in der Nacht auf den 2. Juli in Marseille berichtete.
Polizist in Untersuchungshaft
Hedi fällt ins Koma, muss notoperiert werden. Was die Polizisten nicht ahnen: Die anschließende Prügel-Szene wurde von Videoüberwachungskameras aufgezeichnet. Einer der vier beteiligten Polizisten kommt in Untersuchungshaft.
Das ist Ursache und Beginn einer Welle von Krankmeldungen, die inzwischen umliegende Städte wie Nîmes, Toulon, Nizza und Avignon, aber auch die Hauptstadt Paris erfasst hat. Zu Wochenbeginn gaben die Gewerkschaften noch an, dass sich einige hundert Polizisten krank gemeldet haben oder nur noch eingeschränkt Dienst tun.
Doch die Bewegung scheint sich ausgeweitet zu haben: Das Innenministerium geht von landesweit "weniger als fünf Prozent" aller Polizisten aus, die bei dem Protest mitmachen.
Aufstand gegen Untersuchungshaft
Jean-Christoph Couvy von der Gewerkschaft SGP ist einer der Wortführer des Protests gegen die Inhaftierung des Marseiller Kollegen. Im Radiosender France Info erklärt er, es sei vor allem die Form, die ihn und seine Mitstreiter betroffen mache: "Untersuchungshaft, das ist mehr als eine Missbilligung. Das kommt einer Entehrung gleich."
Unterstützung erhalten die protestierenden Polizisten von ganz oben. Der Chef der nationalen Polizei, Generaldirektor Frederic Veaux, sagte der Zeitung "Le Parisien", er könne nicht mehr ruhig schlafen, seit der Marseiller Polizeibeamte in Untersuchungshaft sitzt. Ein Polizist, der wegen des Vorwurfs eines schweren Fehlverhaltens im Rahmen seines Einsatzes einen Prozess fürchten müsse, gehöre nicht ins Gefängnis, so Veaux.
Die Gewerkschaften fordern neue Gesetze, die die Polizisten davor schützen, präventiv inhaftiert zu werden. Jean-Christoph Couvy führt aus: "Wir wollen eine spezialisierte Rechtsprechung mit Richtern, die für den Einsatz von Polizeiwaffen in äußerst schwierigen Situationen sensibilisiert sind."
Gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung?
Die Forderungen der Gewerkschaften seien schockierend und widersprächen den Grundsätzen der Gleichbehandlung, urteilt Patrick Baudouin, Anwalt und Präsident der Menschrechtsliga. Für alle müssten dieselben Regeln gelten. Das hat auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betont. Niemand stehe über dem Gesetz, sagte der Präsident, nachdem es unter Juristen und linken Politikern einen Aufschrei gegeben hatte.
Baudouin kritisiert, dass sich Innenminister Gérald Darmanin auf ein zweifelhaftes Terrain begebe. Schließlich habe Darmanin dem Generaldirektor Veaux, nicht widersprochen, als dieser sagte, ein Polizist gehöre nicht in Untersuchungshaft. "Das ist wirklich besorgniserregend", findet Baudouin.
Solidarität mit der Polizei
In der Tat demonstriert Minister Darmanin Solidarität mit den Polizisten. Auf diese Weise versucht er, den sich ausweitenden Protest einzugrenzen. So kurz nach den Unruhen und ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Frankreich wäre ein anhaltender Machtkampf mit der Polizei ein Alptraum für den Innenminister.
Darmanin betont immer wieder sein Verständnis für die Einsatzkräfte: "Die Polizisten fordern nicht, über dem Recht zu stehen, aber sie wollen auch nicht unter dem Recht stehen. Die Polizisten sind die einzigen, für die in der Öffentlichkeit nicht die Unschuldsvermutung zu gelten scheint, sondern eine Schuldvermutung."
Viele Polizeibeamte empfänden einen mangelnden Respekt seitens der Medien und seitens mancher Politiker. Der Parteichef der Sozialisten, Olivier Faure, hat inzwischen den Rücktritt von Darmanin gefordert. Faure sieht die Gewaltenteilung in Gefahr.
Der Minister geht auf die Polizei zu
Die Polizeigewerkschaften hingegen zeigten sich nach dem Treffen mit Darmanin am Donnerstagabend zufrieden. Denn Darmanin versprach, einige ihrer Forderungen zu prüfen: unter anderem die nach Sonderregeln für die Untersuchungshaft, sofern Polizisten betroffen sind.
Zu dem schwerverletzten Hedi allerdings hat sich Darmanin bisher nicht geäußert. Dessen Anwalt teilte mit, dass er sehr wahrscheinlich auf dem linken Auge blind bleibt.