Wahlsystem in Großbritannien Dem Sieger gehört alles
Das britische Mehrheitswahlrecht bevorzugt große Parteien: Nur der Sieger im Wahlkreis zieht ins Unterhaus ein, alle anderen Stimmen fallen unter den Tisch. Anhänger kleiner Parteien sind deshalb frustriert.
Zugegeben: ABBA haben ihren Song "The Winner takes it all" nicht über das britische Wahlsystem geschrieben. Aber: Dem Sieger gehört alles, das ist das Prinzip bei den Wahlen zum Unterhaus. Und wie könnte es anders sein, haben die Briten auch noch eine Umschreibung aus dem Pferdesport für ihr Wahlsystem: "First past the post" - wer als Erster den Pfosten der Ziellinie passiert, hat gewonnen.
Alle anderen Kandidaten und Kandidatinnen fallen hinten runter. Anders als im deutschen Verhältniswahlrecht gibt es in den 650 Wahlkreisen im Land keine Zweitstimme, die es Abgeordneten erlauben würde, noch über die Liste ins Parlament zu kommen. Das britische Mehrheitswahlrecht benachteiligt kleine Parteien und begünstigt die beiden großen.
Viele wollen taktisch wählen
Das sind eben die Konservativen unter Premierminister Rishi Sunak und Labour mit Oppostionsführer Keir Starmer. Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen-Mary-Universität in London erklärt: "Das Mehrheitswahlrecht berücksichtigt nicht, wie die Menschen gewählt haben, die nicht für den Sieger gestimmt haben." So müssten sich etwa junge Wähler, die sich sehr für Umweltbelange einsetzen, überlegen, ob sie die Grünen wählen, weil sie von vornherein wüssten, dass die Grünen im britischen Wahlsystem nicht den Sitz in ihrem Wahlkreis gewinnen werden.
Eine einzige Abgeordnete der Grünen saß für Brighton 14 Jahre lang im Unterhaus. Jetzt tritt Caroline Lucas nicht mehr an. Und so ist offen, ob die Grünen wieder einen Sitz holen können.
Jay, 27 Jahre alt, die wir bei einem Bürgerfest in Edinburgh treffen, steht genau vor so einem Dilemma, ob sie ihre Stimme den Grünen geben soll. Sie hat sich entschieden, taktisch zu wählen, und zwar Labour:
Viele Leute entscheiden sich für taktisches Wählen. Sie wollen unbedingt die Konservativen verhindern und geben der Partei ihre Stimme, die die Konservativen am ehesten schlagen kann. Auch wenn sie die Partei eigentlich gar nicht so sehr mögen.
Jay denkt, vor allem deshalb werde Labour hoch gewinnen: "In meinem Wahlkreis können Labour oder die Schottische Nationalpartei SNP die Konservativen schlagen. Da entscheide ich mich für Labour."
Briten stimmten 2011 gegen Verhältniswahlrecht
Ein anderes taktisches Kalkül: Es heißt, Labour mache keinen Wahlkampf in Wahlkreisen, in denen die Liberaldemokraten die Nase vorn haben. Auch wenn das niemand offiziell bestätigen will. Immer wieder wird darüber diskutiert, ob das Wahlsystem für die britischen Parlamentswahlen geändert werden soll.
Denn Regional- und Kommunalwahlen in den Landesteilen finden zum Teil nach alternativen Verfahren statt, die das Gesamtbild der Wahl berücksichtigen. Die Koalitionsregierung von Konservativen und Liberaldemokraten ließ die Briten 2011 in einem Referendum abstimmen, ob sie bei Unterhauswahlen lieber ein "preferential voting" einführen wollten - ein Rangfolgewahlsystem, bei dem der Wahlkreisgewinner nicht auf den ersten Blick mit einer einfachen Mehrheit feststeht.
68 Prozent stimmten dagegen. Vielleicht auch weil sie unzufrieden waren mit der Koalition. Denn Regierungskoalitionen, wie man sie aus dem Ausland kennt, genießen bei den Briten nicht den besten Ruf und werden generell eher mit Instabilität in Verbindung gebracht. Auch darum nimmt man in Kauf, dass kleine Parteien klein bleiben.
Diskussion über das Wahlrecht nimmt Fahrt auf
Doch Dan Lawes von der Wohltätigkeitsorganisation "My Life, my say", die junge Leute zum Wählen animieren möchte, meint, bei dem Thema sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. Besonders wenn sich abzeichnet, dass bei diesen Wahlen kleine Parteien mehr Stimmen auf sich vereinen könnten, die dann quasi verloren gehen: "Ich denke, die Diskussion wird in den kommenden vier Jahren Fahrt aufnehmen, und wir werden verstärkt über ein Verhältniswahlrecht diskutieren."
Sie sei gespannt, wie Labour und Konservative dazu in vier Jahren bei den nächsten Wahlen stünden.
Mit 3,8 Millionen Stimmen - und keinem Parlamentssitz
Eine kleine Partei, die bei dieser Wahl mehr Stimmen holt, könnte auch die rechtspopulistische Partei Reform UK sein, für die Nigel Farage spät, aber gewaltig ins Rennen zog. Für die Vorgängerpartei UKIP holte Farage bei der Wahl 2015 landesweit 3,8 Millionen Stimmen - aber keinen einzigen Sitz. Dagegen wählten die Schotten mit 1,5 Millionen Stimmen 50 SNP-Abgeordnete ins Parlament. Ergebnisse, die man als strukturelle Ungerechtigkeit sehen kann.
Politikwissenschaftler Tim Bale outet sich als Fan des Verhältniswahlrechts und würde seinen Landsleuten gerne die Angst davor nehmen: "Aus meiner Sicht ist das Verhältniswahlrecht fairer, es repräsentiert einen Wahlkreis auch abgesehen vom Gewinner." Er selbst habe in Neuseeland gelebt, wo es dasselbe Wahlsystem gibt wie in Deutschland. "Ich würde den Briten sagen, sie sollten keine Angst haben, dass ein anderes Wahlrecht ihr Parteiensystem zerstört. Es gibt nur den kleinen Parteien eine Stimme im Parlament."