Wahl im Vereinigten Königreich Richtungswechsel auch in Schottland?
Immer mehr schottische Wähler wenden sich von der SNP, der Regierungspartei in Edinburgh, ab. Die Unabhängigkeit ist in weite Ferne gerückt. Bei der anstehenden Unterhauswahl könnte Scottish Labour der große Gewinner sein.
Scott Arthur kann es selbst kaum glauben. Der Schotte ist seit vielen Jahren Labour-Mitglied. Nun tritt er in Edinburgh für einen Sitz im Parlament in Westminster an.
Laut Umfragen hat der 55-Jährige eine echte Chance, den Wahlkreis zu gewinnen. Nach fast zehn Jahren könnte sich in Edinburgh South West wieder die sozialdemokratische Labour-Partei gegen die links-nationale Scottish National Party, die SNP, durchsetzen.
Glaubt man den Hochrechnungen, steht in ganz Schottland ein Richtungswechsel an: Labour könnte bis zu 30 von insgesamt 57 Sitzen holen. Das Szenario sei gut ein Jahrzehnt kaum denkbar gewesen. "Die Leute hätten uns ausgelacht", sagt Arthur.
Schottische Nationalisten dominierten zuvor
Denn 2015 verlor die Labour-Partei ihre einstige Hochburg Schottland. In einem Erdrutschsieg holte die SNP fast alle schottischen Sitze in Westminster. Mit ihren klassisch linken Positionen waren die Nationalisten aus dem hohen Norden an Labour vorbeigezogen, die sich in Richtung Mitte entwickelt hatte.
Das schottische Unabhängigkeits-Referendum im Jahr zuvor hatte zudem Wähler mobilisiert - auch, wenn sich 55 Prozent der Abstimmenden gegen die Unabhängigkeit aussprachen. Das Kernthema der SNP elektrisierte die Bevölkerung. 2015 holten zwar die Konservativen im Rest des Vereinigten Königreichs die meisten Stimmen. Doch die damalige SNP-Chefin Nicola Sturgeon galt als eigentliche Siegerin der Wahl.
Was ist seitdem passiert?
Bis heute sind viele Schotten enorm frustriert über die Tory-Regierung in London. Erst hatte ihre Sparpolitik die Kassen leergespült, dann kam der Brexit. Eine Mehrheit der Schotten hatte für den Verbleib in der EU gestimmt. Sturgeon nannte es "demokratisch inakzeptabel" dennoch den Brexit vollziehen zu müssen.
Viele Schotten wollen nun vor allem eines: Die Tories aus dem Amt wählen. Im britischen Wahlsystem bedeutet das, der Partei eine Stimme zu geben, die die besten Chancen auf eine Mehrheit hat - Labour also.
Darüber hinaus, sagt Scott Arthur, seien viele Schotten auch unzufrieden mit der SNP. Die stellten nämlich im schottischen Regionalparlament in Edinburgh lange die Regierung, aktuell mit einer Minderheit. Die Partei sei als Alternative zum Establishment angetreten.
Doch dann kamen eine bis heute schwelende Finanzaffäre, ein Richtungsstreit in der Koalition mit den Grünen sowie drei neue Parteichefs in etwas mehr als einem Jahr. Und die schottische Unabhängigkeit, das Kernthema der SNP, spiele im Haustürwahlkampf praktisch keine Rolle mehr, sagt Labour-Kandidat Arthur.
Unabhängigkeit keine Priorität mehr
In Arthurs Wahlkreis bestätigt sich das. Ross McKinley, ein junger Mann, der zuletzt noch die Konservativen gewählt hatte, will diesmal Labour seine Stimme geben. Die SNP sei völlig konfus. Und statt noch mehr Spaltung brauche das Land Zusammenhalt.
Priorität, sagen andere Schotten, habe für sie die Inflation, die Wirtschaft müsse schneller wachsen, das öffentliche Gesundheitssystem wieder fit gemacht, die Schulen überholt werden. Einige sind Wechselwähler. Aber weniger aus Überzeugung für Labour - es sei das kleinere Übel, sagen die meisten.
Deidre Brock will die Wähler vom Erfolg der SNP überzeugen. Seit 2015 ist sie Westminster-Abgeordnete für Edinburgh North und Leith. Im Haustürwahlkampf verteilt sie Infoblätter zu "den 100 bereits erreichten Zielen" der SNP: "Rezeptgebühren abgeschafft", steht darauf, "niedrigere Gemeindesteuer", "kostenloses Studium", "kostenlose Busfahrten für Senioren". Es ist eine lange Liste mit Erleichterungen im Alltag, die in der Bevölkerung anscheinend nicht verfängt.
Angus Robertson, Ex-Fraktionschef in Westminster und heute Mitglied im Regionalparlament, sagt: Wenn eine Partei neu an die Macht kommt, hätten alle die Hoffnung, dass sie sofort Veränderung bringe. Je länger eine Partei an der Macht ist, desto schwieriger werde es, die Leute zufrieden zu stellen. Und auch die Medien würden die SNP verzerrt darstellen, sagen andere Mitglieder. Die BBC fokussiere sich im Wahlkampf auf die großen Parteien. Die kleine SNP falle unter den Tisch.
Ein Landesteil Großbritanniens
Dazu käme die komplexe Realität der britischen Union. Schottland ist seit mehr als 300 Jahren ein Landesteil Großbritanniens. Es kann also nur einen Teil seiner Geschäfte selbst verwalten.
"Wenn man der Meinung ist, wir investieren zu wenig ins Gesundheitswesen, muss man verstehen, dass unsere Steuergelder zuerst über London fließen und wir nur einen Teil zurück kriegen", sagt Robertson. Die SNP sei in einigen Bereichen schlicht nicht in der Lage, selbst zu bestimmen.
Genau deshalb halten die Nationalisten weiter an der Unabhängigkeit fest. Sie sei der Schlüssel, um selbst über Schottlands öffentliche Finanzen entscheiden zu können, über Migration und Fachkräfte, die Schottland so dringend brauche, die Rückkehr zur EU und vielleicht sogar einen eigenen Platz am Tisch der NATO bekommen zu können. "Auf kurz oder lang wird es zu einer Volksbefragung kommen, da bin ich mir sicher", sagt Robertson. Alles andere sei nicht demokratisch.
"Protestbewegung oder Regierungspartei?"
Aus Sicht der SNP könnte Labour die schottischen Interessen in Westminster nicht vertreten: Die Parteizentrale ist in London, die Parteichefs sind Engländer. Zudem schweigt Labour weitestgehend zum Brexit und seinen negativen wirtschaftlichen Folgen.
Ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum lehnt Labour ab. Die SNP argumentiert, dass sie als starke Oppositionspartei dafür sorgen werde, eine wahrscheinliche Labour-Regierung nach links zu drängen.
Labour hingegen glaubt, eine Partei, die wie die SNP in Westminster zur Opposition verdammt sei, könne wenig erreichen. "Die Leute müssen sich fragen, ob sie eine Protestbewegung wollen oder eine Regierungspartei", sagt Scott Arthur. Noch gibt er sich nicht siegesgewiss für seinen Wahlkreis.