Fernunterricht in der Ukraine Hausaufgaben im Untergrund
Heute startet in der Ukraine das neue Schuljahr. Für viele Kinder im Osten bedeutet das: Unterricht auf Russisch, mit dem die ukrainische Kultur beseitigt werden soll. Doch eine Lehrerin in Kiew wehrt sich dagegen.
Nataljas Arbeit ist von viel Improvisation geprägt - und findet vorwiegend im digitalen Raum statt: "Wir beginnen um 14 Uhr. Eine Online-Unterrichtsstunde dauert insgesamt 45 Minuten, aber wir arbeiten nur etwa 25 Minuten gemeinsam. In der verbleibenden Zeit arbeiten die Schüler selbstständig."
Natalja ist Mathematiklehrerin an einer Art Exil-Gymnasium und lebt in Kiew. Sie stammt aus der ostukrainischen Region Luhansk, die fast vollständig von Russland besetzt ist. Im März 2022 floh Natalja, ähnlich wie andere dortige Lehrkräfte. Von Kiew aus unterrichtet Natalja seit Sommer 2022 Fünft- und Sechstklässler online gemäß dem ukrainischen Lehrplan.
Ihr Unterricht beginnt erst am Nachmittag, sobald die Kinder am ihrem jeweiligen Wohnort Schulschluss haben. Denn zu Nataljas Schülern gehören Kinder, die ins Ausland geflohen sind - aber auch solche, die nach wie vor im russisch besetzten Luhansk wohnen.
Angst vor russischer Überwachung
In ihrem Fall gebe es besondere Sicherheitsmaßnahmen, erzählt Natalja: "Wir kennen ihre Namen, aber in unseren Chats tauchen sie mit Pseudonymen auf. Wir korrespondieren über Messenger-Dienste. Die Kinder kontaktieren mich, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Beim Online-Unterricht können sie nicht immer direkt dabei sein. Ihre Hausaufgaben schicken sie mir oft über Mittelspersonen, zum Beispiel ältere Verwandte oder Nachbarn."
Also Personen, die den Besatzern wohl nicht verdächtig erscheinen. Nicht ohne Grund, denn die Teilnahme am digitalen ukrainischen Untergrundunterricht ist für die Schüler ebenso wie für ihre Eltern gefährlich: "Natürlich haben sie Angst. Wenn sie sich an der russisch kontrollierten Schule im selben Raum aufhalten, sprechen sie kaum miteinander. Denn es könnte sie jemand belauschen. Oft werden auch Telefone der Schüler überprüft. Eltern, deren Kinder mit ukrainischen Schulen korrespondieren, wird angedroht, dass man ihnen die Kinder wegnimmt."
Russischer Unterricht soll ukrainische Identität beseitigen
Nataljas Schilderungen decken sich mit Berichten von ukrainischen und internationalen Menschenrechtsgruppen. Demnach üben Besatzungsbehörden massiven Druck auf Eltern aus, die ihre Kinder nicht an russische Schulen schicken. Der dortige Unterricht findet ausschließlich auf Russisch statt und ist zudem, wie es heißt, darauf ausgerichtet, die ukrainische Identität zu beseitigen.
Letzteres erleben auch Nataljas Schülerinnen und Schüler. Dennoch fühlen sie sich, so die Lehrerin, der Ukraine weiterhin verbunden: "Die Schüler erledigen die Aufgaben sehr gewissenhaft. Obwohl sie seit zweieinhalb Jahren im russisch besetzten Gebiet leben, machen sie sprachlich keine Fehler, sie haben Ukrainisch nicht vergessen. Ich denke, der Unterricht bei uns bedeutet ihnen sehr viel, wenn sie und ihre Eltern solche Risiken eingehen."
Vertrauensverhältnis zu Schülern
Natalja hofft, dass der Exil-Unterricht ihrer Schule dazu beitragen kann, dass die ukrainische Identität in den besetzten Gebieten nicht verloren geht. Zwischen ihr und ihren Luhansker Schülern hat sich mittlerweile ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, obwohl sie nur digital miteinander in Kontakt sind.
Oft schrieben sie die Kinder spontan an - um einfach mal zu plaudern, erzählt Natalja: "Das kommt manchmal spät in der Nacht vor. Sie wollen dann über Dinge sprechen, über die sie nicht mit ihren Eltern reden möchten. Sie erzählen zum Beispiel, wovon sie träumen. Ich höre ihnen dann einfach zu."
Der größte Traum der Kinder sei dabei, dass sie und ihre Lehrerin sich alle auch persönlich in einer freien Ukraine treffen könnten.