Ein Jahr nach der Tragödie von Melilla Die vergebliche Suche nach Schutz und Menschlichkeit
Vor einem Jahr versuchten fast 2000 Migranten, die meterhohen Zäune von Melilla zu überwinden. An der Grenze zwischen der spanischen Exklave und Marokko gab es Tote und Verletzte.
Melilla im Juni 2023. Es ist ruhig an der Grenze zu Marokko. Der Wind pfeift. Die Sicherheitszone ist menschenleer. Der freie Journalist Javier García Angosto steht auf dem Hügel, von dem aus er vor einem Jahr den Vorfall beobachtet hat, der später als "Tragödie von Melilla" Schlagzeilen machte.
Es ist eine Mischung aus Olivenhain und wilder Müllkippe, mit Blick auf die Grenze und das tiefblaue Mittelmeer. Er zeigt auf mehrere meterhohe Zäune auf marokkanischer Seite, zwischen ihnen, tiefe Gräben. "Wenn man in den Graben fällt", erklärt er, "dann fällt man mehr als zwei Meter tief." Unüberwindbar sei diese Grenzanlage. Vor einem Jahr hat Angosto auf diesem Hügel dramatische Szenen gefilmt. Er hat sie auf seinem Handy.
Verletzte harrten unbehandelt auf spanischer Seite aus
Marokkanische Polizisten, die von oben große Steine auf Migranten werfen, ein Mann, der versucht, den Steinen auszuweichen. Eine größere Gruppe, bestimmt 200 Menschen, die es auf spanischen Boden geschafft haben und wie einer nach dem anderen zurück nach Marokko gebracht wird. "Schaut Euch diesen Jungen an", sagt García Angosto, sichtlich bewegt von den Bildern, "wie er rennt".
Der Junge versuchte, Schutz in den Olivenbäumen zu finden. Vergeblich. Die Aufnahmen zeigen, wie Verletzte unbehandelt auf spanischer Seite ausharren, obwohl ein Krankenwagen des Roten Kreuzes schnell vor Ort ist.
Einer nach dem anderen wird zurück nach Marokko gebracht
Marokkanische Beamte auf spanischem Boden sind zu sehen, die darauf warteten, dass ein von einem Stein getroffener Migrant hinfalle, um ihn sich dann zu greifen, erklärt der Journalist. Und immer wieder Rückführungen - das habe ihn damals beunruhigt. Auch weil es wirkte, als spielten Menschenrechte keine Rolle.
Er habe gesehen, wie einer nach dem anderen zurück nach Marokko gebracht wurde, ohne sie zu identifizieren oder zu fragen, woher sie kommen. Das habe ihn besorgt, denn in diesem Moment sei nicht klar gewesen, was diesen Menschen auf der anderen Seite widerfahre. Mittlerweile ist klar: Viele sitzen im Gefängnis, von anderen fehlt bis heute jede Spur. Wieder andere harren in den umliegenden Wäldern aus und warten.
An der Grenze zur spanischen Exklave in den Wäldern von Gourougou rund um die marokkanische Stadt Nador: Hier warten normalerweise Hunderte Migranten auf ihre Chance, über den Grenzzaun von Melilla zu gelangen. Alte Matratzen, Kleidung, große Wasserkanister und altes Verbandszeug liegen hier noch herum. Ein Jahr nach der Tragödie von Melilla ist es ruhig in Nador.
Viele Migranten und Asylsuchende gebe es hier nicht mehr, weder in den Wäldern, noch in der Stadt, sagt Moussa. Er ist Anfang 30, aus Guinea, arbeitet in der Küche eines Restaurants, spült Teller, Tassen, Besteck. Obwohl er Asyl- Papiere hat, sei es nicht leicht für Schwarze in Nador. "Alles ist eingeschränkt. Du kannst nicht mal einfach rausgehen. Das kannst du nur nachts", erzählt er. "Du musst bis 20 Uhr, 21 Uhr warten. Auch um Lebensmittel zu kaufen, musst du dich vor der Polizei verstecken. Die verhaftet dich sonst oder bringt dich weg."
Bleiben ist keine Option
Moussa hat Frau und eine kleine Tochter. Im Herbst wird sie drei. Weil die Situation in Nordmarokko so schwierig für schwarze Migranten und Asylsuchende sei, habe er sie weggeschickt. 4500 Euro und ein Schnellboot waren der Ausweg, erzählt er. Jetzt sind die beiden in Spanien und werden von Hilfsorganisationen versorgt.
Moussa überlegt, was er jetzt machen soll. In den Wäldern hat er selbst mal zwei Jahre gelebt, ein vermeintlicher Schlepper habe sich mit seinem Geld auf und davon gemacht. In Nador wurde er selbst mit Asylpapieren schon festgenommen. Bleiben ist für ihn keine Option. "Selbst, wenn du Lebensmittel kaufen willst, wenn etwas eigentlich einen Dirham kostet, werden sie es dir für zwei Dirham verkaufen. Du musst viel mehr bezahlen, wenn du schwarz bist."
Eine Katastrophe für Menschenrechte
Wer als Migrant oder Asylsuchende überhaupt noch in Grenznähe lebt, der kennt meistens auch Ousmane Ba. Er kommt aus dem Senegal, lebt schon seit mehr als einem Jahrzehnt in Marokko. Elf Jahre hat er in den Wäldern von Gourougou gelebt. Er hat zehn Mal versucht, nach Europa zu kommen - ohne Erfolg.
Ousmane Ba erzählt von Essen aus dem Müll, mit Urin verseuchtem Brot, das ihn krank gemacht hat. Heute hat er einen Aufenthaltstitel, arbeitet zum Thema Migration, hat eine eigene Nichtregierungsorganisation in Marokko für Migranten aus Staaten südlich der Sahara, wird weltweit auf Konferenzen eingeladen - seine zwei Kinder sprechen fließend den marokkanischen Dialekt und gehen zur Schule.
"Die EU wird sagen - in Nador wird die Arbeit gut gemacht: Niemand ist mehr in den Wäldern. Für die Menschenrechte ist das eine Katastrophe." Laut Ousmane Ba sind die wenigen, die geblieben sind, viel vulnerabler geworden, müssten sich tagsüber verstecken, in Wäldern und Tunneln.
Sie können sich nicht frei bewegen wie zuvor mit den Taxis, weil das verboten ist. Die Marokkaner, die vorher in den Wäldern Fisch oder Wasser verkauft haben, selbst die Hilfsorganisationen haben keinen Zugang mehr zu den Wäldern, das alles gibt es nicht mehr.
Todesfälle bis heute nicht richtig aufgearbeitet
Dass sich die Situation für Asylsuchende verschlechtert hat, beobachtet auch M'barek Bouirig. Der Anwalt hat die größtenteils sudanesischen Asylsuchenden vor Gericht vertreten, die vor einem Jahr versucht hatten, den Grenzzaun in Melilla zu überwinden - viele von ihnen sitzen nun eine dreijährige Haftstrafe ab. "Mit allem Respekt für das Gericht sind wir mit den Urteilen nicht einverstanden. Wir betrachten die Sudanesen, die nach Marokko kamen, per Gesetz als Geflüchtete, weil sie vor dem Krieg geflohen sind. Das Gericht der ersten Instanz hat das berücksichtigt und Strafen von elf und acht Monaten verhängt. In der zweiten Instanz aber wurden die Strafen für alle auf drei Jahre erhöht."
Seit einem Jahr wird beklagt, dass die Umstände um die Todesfälle in Melilla nicht richtig aufgearbeitet würden - weder von spanischer, noch von marokkanischer Seite. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beklagen, dass ein Jahr nach der Tragödie von Melilla immer noch Menschen in den Leichenhallen in Marokko liegen würden - bis heute nicht von ihren Familien identifiziert oder beerdigt.
Schlepper entwickeln neues Geschäftsmodell
In den vergangenen Monaten hat es laut Daten der europäischen Grenzagentur Frontex weniger Versuche gegeben, Europa von marokkanischem Territorium aus zu erreichen. Die Kanaren etwa. Oder das Festland. Auch über die Türkei versuchten es weniger Flüchtende. Dafür deutlich mehr aus Tunesien.
Ein Grund dafür, erklärt Piotr Świtalski von Frontex: Schlepper hätten dort ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Sie bauten jetzt billige Boote, sagt er, die innerhalb von 24 Stunden an Stränden fertigen würden. Diese Boote könnten 20 bis 30 Personen an Bord nehmen. Aber sie seien nicht seetauglich.
Jetzt, im Sommer, würden sich aber auch auf anderen Routen wieder mehr Menschen auf den Weg machen. Wie diese Woche in Richtung Kanaren. Mehr als 300 Geflüchtete wurden gerettet, aber es gibt auch viele Vermisste.