Russlands Angriff auf die Ukraine Europa hat einen neuen Feind
Russland marschiert in die Ukraine ein und die Europäer sind fassungslos. Europa rückt nun zusammen und justiert seinen Kurs gegenüber Moskau neu. Auch über weitere Sanktionen wird nachgedacht.
Manche sprechen von einem Schock in Brüssel, andere von einer Entwicklung, die man eigentlich hätte absehen müssen in den vergangenen Wochen: Spätestens nachdem die USA und amerikanische Geheimdienste offenbar verlässliche Informationen darüber hatten, dass der russische Präsident Wladimir Putin mit seiner Armee tatsächlich einen Überfall auf die Ukraine plant, dass er seine Truppen eben nicht, wie er ja mehrfach öffentlich behauptet hatte, aus den Grenzgebieten dort abzieht, sondern - im Gegenteil - verstärkt.
Verhandeln und Drohen - ohne Erfolg
Doch bis zuletzt hatte die EU gehofft, dass es so nicht kommen würde, hatte auf Verhandeln und auf das Drohen mit Sanktionen gesetzt und erste Sanktionsschritte eingeleitet.
Jetzt weiß man: Das war gut gemeint, aber ohne Erfolg. Seit Putin die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk offiziell als von der Ukraine unabhängige Staatsgebiete anerkannt und die Entsendung von - wie er es nannte - "Friedenstruppen" aus Russland dorthin angekündigt hatte, wurde klar, dass Europa vor einem neuen Krieg steht. 77 Jahre nach dem Ende der deutschen Nazi-Diktatur.
Es gab Vorboten
Zwar hatte man auch in der Europäischen Union befürchtet, dass Russland einen Anspruch auf diese Gebiete erhebt. Denn sie sind als pro-russische Gebiete 2014 entstanden, als Folge der blutigen Ereignisse auf dem Maidan in Kiew. Damals hatte die pro-russische Regierung dort ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet. Machthaber Janukowitsch wurde gestürzt und flüchtete nach Russland. Es entstand ein Machtvakuum in der Ukraine, das Putin nutzte, um die Krim zu annektieren.
In Brüssel sehen viele dieses ungeklärte Verhältnis der Ukraine zur EU, auch die geographische Lage quasi als Pufferstaat zwischen dem politisch geeinten Europa und Russland, als eigentliche Ursache für den jetzigen Krieg.
Man hat gewusst, dass da etwas zu entgleiten droht und es doch nicht wirklich beeinflussen können. Wenige Tage vor Ausbruch der Kämpfe formulierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Europäischen Parlament das, was man eigentlich schon lange hatte kommen sehen: eine russische De-Facto-Integration der Ost-Ukraine.
Verwundbarkeit der EU an der Ostflanke
Deshalb gibt es vor allem aus östlichen EU-Staaten auch Vorwürfe Richtung Brüssel. Man habe Russland zu lange freie Hand gelassen, Putin nichts entgegen gesetzt. Es sind dunkle Erinnerungen an die Zeit der sowjetischen Besetzung. Estlands Regierungschefin Kaja Kallas beispielsweise hatte frühzeitig Unterstützung in - so wörtlich - jeglicher Hinsicht für die Ukraine gefordert, auch Waffenlieferungen. Man fürchtet im Baltikum oder in Polen die eigene Verwundbarkeit.
Es ist aber auch eine Verwundbarkeit der gesamten EU an ihrer Ostflanke. In Europas Hauptstädten ist man sich dessen bewusst, rückt zusammen und selbst die Bundesregierung ändert ihren Kurs. Mit seiner Aussage, die Ostseepipeline Nord Stream 2 quasi auf unabsehbare Zeit auf Eis zu legen, demonstriert Bundeskanzler Olaf Scholz eine bisher ungekannte Gangart gegenüber Russland. In Brüssel wird das aufmerksam registriert: Hier werden gerade Grundprinzipien internationaler Politik neu justiert.
EU-Staaten "auf einer Linie"
Als Antwort auf den russischen Überfall hat die EU das größte Sanktionspaket auf den Weg gebracht, das in Brüssel jemals geschnürt wurde. Es soll Russland und die russische Wirtschaft ins Mark treffen. Russlands Banken seien praktisch abgeschnitten von Geschäften mit der EU, sagt Bundesfinanzminister Christian Lindner, und sein französischer Kollege Bruno Le Maire unterstreicht, wie sehr alle 27 Mitgliedsstaaten hier auf einer Linie seien. Auch Polen und Ungarn: Der jahrelange Streit um ihren Rechtsstaat, ihr Justizsystem, die demokratischen Grundrechte, den sie mit Brüssel führen - auf einmal erscheint er angesichts des Krieges als lästige Kleinigkeit.
Aber wenn Schweiz und Großbritannien nicht mitmachen?
EU-Investoren dürfen Kreditinstitute aus Russland nicht mehr mit Krediten versorgen. Dazu kommen Exportverbote und Exportkontrollen für High-Tech-Produkte, die laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Russland den Betrieb ganzer Flugzeugflotten gefährden könnten. Und: Russischen Oligarchen, die Teile ihrer milliardenschweren Vermögen in Europa deponiert haben, soll der Zugriff darauf verwehrt werden.
Es ist ausgerechnet der Regierungschef des kleinsten und sehr wohlhabenden Mitgliedslandes Luxemburg, der zu bedenken gibt, dass dies zwar richtig und wichtig sei - wenn allerdings die Schweiz oder Großbritannien als Nicht-EU-Staaten an dieser Stelle nicht mitmachten und russischen Eliten in London oder am Genfer See weiterhin Zugriff auf ihre Konten gewährten, könne dieser Schritt verpuffen.
SWIFT-Ausschluss ist umstritten
Die baltischen Regierungen finden die beschlossenen Sanktionen deshalb auch halbherzig. Sie drängen auf mehr und wollen einen Ausschluss Russland aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT. Es wäre ein Kappen praktisch der gesamten Zahlungsströme von und nach Russland. Doch einen solchen Schritt könnten auch die Menschen in der EU drastisch zu spüren bekommen. Die Bundesregierung befürchtet in einem solchen Fall, dass dann Gaslieferungen aus Russland nicht mehr abgerechnet werden könnten und Putin den Gashahn möglicherweise einfach zudrehen würde. Eine Sorge, die man auch in anderen EU-Staaten teilt. Allerdings nicht in allen.
Folge: Steigende Energiepreise
Russland von SWIFT abzuschneiden sei zwar folgenreich, aber durchaus zu handhaben, so sehen es einige Ökonomen. Auch solche in Deutschland - etwa Veronika Grimm aus dem Sachverständigenrat oder Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft.
Allerdings werde das einen Preis haben: Vor allem noch weiter steigende Energiekosten. Aus der EU-Kommission heißt es, das müsse man in Kauf nehmen, wenn man für Frieden und Demokratie eintrete. So formuliert es Valdis Dombrovskis, EU-Kommissionsvize aus dem baltischen Staat Lettland. Deshalb ist aus Brüsseler Sicht klar: SWIFT ist das, was als nächster Eskalationsschritt gegen Russland zum Zuge kommen könnte.
Über nukleare Abschreckung nachdenken
Und während das politisch intensiv diskutiert wird, zieht die NATO in Osteuropa Truppen, Flugzeuge, Waffen zusammen - in bisher ungekanntem Ausmaß und unter massiver Beteiligung der USA. Es ist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler von der Humboldt-Universität, der meint, Europa müsse jetzt neu über etwas nachdenken: Über das eigene nukleare Abschreckungspotential Russlands gegenüber.
Plötzlich wähnen viele sich wieder im längst überwunden geglaubten Ost-West-Konflikt. Es ist eine Zeitenwende. Damals war es der Kalte Krieg. Jetzt gibt es in Europa einen neuen Krieg. Er kostet Menschenleben: in der Ukraine und in Russland.