Erderwärmung Muss die Schweiz Alpendörfer aufgeben?
Weil sich die Erde erwärmt, taut der Permafrost in den Alpen. Immer heftigerer Starkregen spült die freigelegten Geröllmassen die Abhänge hinunter. Jetzt müssen die ersten Schweizer ihre Häuser verlassen - wohl für immer.
Wenn Franziska von Bergen ihr Haus betritt, wirkt alles idyllisch: die bunten Blumen im Garten, das Wind-Glockenspiel und erst recht die üppige Natur hinter dem gepflegten Holzhaus. Eigentlich wollte von Bergen hier ihren Lebensabend verbringen, gleich neben ihrem Elternhaus am Ufer der Aare in Guttannen im Schweizer Kanton Bern.
Doch die Ruhe täuscht. Von Bergen darf nur noch in ihr Haus, um es winterfest zu machen. Denn die Gemeinde hat im Sommer ein Nutzungsverbot verhängt. Schweren Herzens musste von Bergen wegziehen aus dem Tal, in dem sie geboren wurde und aufgewachsen ist. "Meine Kindheit war sehr schön, in der Natur, am Bach - das war das Paradies für mich."
Vom kleinen Bach zur breiten Steinhalde
Der Oberlauf der Aare im Berner Oberland ist aber schon lange kein kleiner Bach mehr mit grün bemoosten Ufern wie in von Bergens Kindheitserinnerungen. Heute gleicht der Fluss einer mehr als hundert Meter breiten Fels- und Steinhalde, die immer mehr zu einer Bedrohung wird, seit massive Gerölllawinen talabwärts durchs Flussbett rasen.
2023 gab es in Guttannen den letzten verheerenden Murgang - so nennt man die Erdrutsche, die eine unfassbar große Mischung aus Felsbrocken, Geröll und Wasser rasend schnell talabwärts treiben, während Blitze zucken, Starkregen herunterprasselt und sich ein erdiger Schwefelgeruch breit macht.
Auf Videoaufnahmen ist zu erkennen, mit welch gewaltiger Kraft sich damals die tausende Tonnen schwere Masse wie eine Schlange ihren Weg in die Aare bahnte - und erst kurz vor dem Haus von Franziska von Bergen Halt machte.
Eisschmelze und Starkregen
Experten registrieren in den Alpen immer häufiger spontan auftretende Murgänge und in immer größerem Ausmaß. Das hängt mit Klimaveränderungen zusammen. Weil sich die Erde erwärmt, taut vielerorts der Permafrost in den Alpen auf. Die Nullgradgrenze verschiebt sich immer weiter nach oben. Drunter, wo das Eis wegschmilzt, fehlt der Kitt für die Berge, was dafür sorgt, dass sich Felsbrocken, Geröll und Gestein herauslösen und weit oben lose ansammeln.
Wenn dann über dem Meer, ebenfalls wegen der Erderwärmung, im Sommer ungewöhnlich große Wassermassen aufsteigen, bilden sich Wolken, die über den Alpen abregnen. Die Kombination aus extremem Starkregen und losem Geröll schießt dann nicht selten als tödliche Lawine Richtung Tal.
Im Juni 2024 starben bei solch einem überraschenden Ereignis im schweizerischen Misox-Tal drei Menschen. Häuser und Autos wurden verschüttet. In der Nobel-Destination Zermatt traten zeitgleich die Bäche über die Ufer, sodass das beliebte Touristenziel am Matterhorn tagelang von der Außenwelt abgeschnitten war. Im September 2024 verwüstete ein Murgang im Städtchen Brienz im Kanton Bern einen ganzen Stadtteil.
Immer höhere Investionen in den Katastrophenschutz
"Bevor die Murgang-Aktivitäten angefangen haben, konnten wir auf den Wiesen neben den Bächen die Kühe weiden. Heute ist das unmöglich", sagt Bergführer Alex Schläppi mit Blick auf den mittlerweile sehr breiten und tiefen Spreitgraben oberhalb von Guttannen, wo der letzte Murgang in Richtung von von Bergens Haus abgegangen war.
Er zieht seinen Klettergurt um die Hüfte und klickt den Karabiner in das Seil, das sich über den mittlerweile hundert Meter breiten Spreitgraben zieht. Schläppi, ein gebürtiger Guttanner, ist für die Instandhaltung der Überwachungsanlage zuständig, die vor Murgängen warnen soll. Diese wurde maßgeblich von einem Unternehmen finanziert, das weiter unten im Tal eine Gaspipeline betreibt, die die Niederlande mit Italien verbindet. Schweizer Wissenschaftler haben zudem Kameras und Infrarot-Messtechnik installiert.
Schläppi kontrolliert in 40 Meter Höhe hängend Kabel und Sensoren, während unter ihm ein schwerer Stein an einem herabhängenden Stahlseil baumelt. Der Stein ist der Sensor für Gerölllawinen. Wird er im Katastrophenfall fortgerissen, schaltet eine Ampel die Hauptstraße im Tal auf Rot und Warnungen werden per SMS abgesetzt.
Derartige Investitionen - auch in Tunnel, Gaspipelines und Schutzmauern - werden in den Alpen immer öfter nötig, um Dörfer vor Naturgefahren zu schützen. Das wissen die Menschen in Guttannen seit dem Jahr 2005 nur zu gut. Damals ging ein Murgang auf der anderen Seite des Dorfes ab und sorgte dafür, dass der Ortskern samt Kirche von der Aare überflutet wurde. Die rasante Veränderung des Klimas und damit der Bergwelt stellt die Verantwortlichen vor die Frage, welche Investitionen vertretbar sind - und welche nicht.
Alex Schläppi vor dem Spreitgraben in der Schweiz. Was früher ein malerischer Bach war, ist heute ein 15 Meter tiefer Schlund, durch den 2023 eine gewaltige Gerölllawine abwärts ging.
Orte aufgeben oder nicht?
In der Schreinerei von Guttannen steht Werner Schläppi an einer Schleifmaschine und wirkt nachdenklich. Der Gemeindepräsident des Ortes wurde schon oft mit der Frage konfrontiert, wie lange die Gesellschaft bereit sei, Millionen in die Infrastruktur der Berge zu investieren. "Wir haben nicht das Gefühl, dass man die Berggebiete aufgeben sollte. Die Politik und die Gesellschaft als Ganzes werden sich damit befassen müssen: Wieviel ist uns das Berggebiet wert?"
Auf diese Frage kann Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Brienz in Graubünden, eine konkrete Antwort geben. Dort hatte ein Felssturz 2023 die 84-Seelen-Gemeinde beinahe zerstört. Und auch heute wieder droht der Fels über Brienz abzubrechen, weswegen der Ort gerade erst erneut evakuiert wurde. Als wäre das noch nicht genug, bedroht auch Wasser im Untergrund das verschlafene Alpendörfchen. Wasserströme in der Tiefe sorgen dafür, dass Brienz kontinuierlich bergab rutscht - jedes Jahr um 2,4 Meter.
Deshalb lässt Albertin einen mehr als zwei Kilometer langen Stollen in den Untergrund bohren, um das Grundwasser umzuleiten und so Brienz, eine nahe gelegene Straße und eine Bahnlinie zu schützen. 77 Millionen Franken kostet allein diese Sicherheitsmaßnahme, von der Albertin noch nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie funktioniert.
"Es ist einfach, zu sagen, man müsse Brienz aufgeben. Aber die Kostenanalyse zeigt klar, dass wir hier diese Millionen investieren können. Mit unserem technischen Wissen sollten wir dort, wo man gewohnt ist, zu leben, dies auch ermöglichen."
In Guttannen dagegen hat die Gemeinde beschlossen, mehrere Häuser aufzugeben - auch das von Franziska von Bergen. Der nächste Abgang könnte es mit sich reißen, wenn der Spreitgraben und die Aare erneut zu einer tödlichen Bedrohung werden.
"Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, zu gehen, bevor ich ums Leben komme. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich mein Paradies verlassen muss", sagt von Bergen. Auch wenn sie die Hoffnung, in ihr Haus zurückzukehren, noch nicht ganz aufgegeben hat, weiß sie sehr wohl, dass der Mensch den Naturgewalten nur wenig entgegenzusetzen hat.
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