Tod von Achtjähriger in der Türkei "Ein ganzes Dorf wusste von dem Delikt"
Vor Wochen wurde die kleine Narin in der Türkei als vermisst gemeldet - und dann tot gefunden. Unter Verdacht steht die Familie. Die Forderungen nach mehr Schutz vor häuslicher Gewalt werden lauter.
Der Fall erschüttert ein ganzes Land: Die achtjährige Narin wurde vor Wochen als vermisst gemeldet. Am vergangenen Sonntag wurde nach einer landesweiten Suchaktion ihre Leiche gefunden - in einem Sack am Rande eines Flusses, nur knapp einen Kilometer von ihrem Dorf Tavşantepe entfernt. Tavşantepe liegt in der Provinz Diyarbakır, im Südosten der Türkei, knapp 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.
Unter den Tatverdächtigen sind mehrere Familienmitglieder: Narins Eltern und Dutzende weitere Familienmitglieder sind in Gewahrsam. Unter den Festgenommenen ist auch ein Onkel, der Dorfvorsteher des Dorfes Tavşantepe ist, in dem Narin lebte und das rund 550 Einwohner zählt. Gegen mehr als zehn Verdächtige wurde mittlerweile Haftbefehl erlassen, einige andere Festgenommene wurden wieder freigelassen.
Im türkischen Fernsehen ist der Name des Mädchens gerade allgegenwärtig. Nach einer anfänglichen Nachrichtensperre ist der Fall überall Thema. Die Berichte und Sendungen dazu sind stundenlang vertiefend, sie suchen nach Antworten. Im Netz, im Fernsehen, in den Zeitungen ist Narins Foto zu sehen, unverdeckt und unverfälscht. Auf Deutsch bedeutet Narin "zierlich" oder "empfindlich".
Beerdigung der achtjährigen Narin. Sie verschwand am 21. August. In den mutmaßlichen Mordfall hat sich inzwischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan eingeschaltet.
Gewaltproblem gegenüber Frauen
Reporter greifen Spekulationen auf, Experten stellen Theorien auf. Wie in einer türkischen Telenovela werden jeden Tag Details aufgedeckt, Verwandte und Dorfbewohner interviewt. Einige wenige stellen dabei die Frage zum großen Ganzen: Wann wird das Problem der häuslichen Gewalt in der Türkei gelöst?
Die Rechtsanwältin Gamze Pamuk ist der Ansicht, dass der Tod von Narin kein Einzelfall ist. "Leider ist dieses Land für kleine Kinder, junge Frauen und unschuldige Menschen inzwischen zur Hölle geworden. Wir müssen den Fall Narin umfassender betrachten", sagt die Anwältin. Es gehe um eine bittere gesellschaftliche Realität: "Ein ganzes Dorf wusste von dem Delikt und hat dennoch kollektiv geschwiegen", so Pamuk weiter.
Zweifel an Familie des Kindes
Eine von vielen Fragen in diesem Fall ist die Nähe der Familie zu politischen Bewegungen. Die in der Region aktive kurdisch-islamische Partei HÜDA PAR, die bei den letzten Wahlen mit der AKP des türkischen Präsidenten Erdoğan zusammenarbeitete, hat jede Verbindung zur Familie zurückgewiesen. Im Kurznachrichtendienst X war zuvor behauptet worden, der verhaftete Onkel von Narin sei Mitglied von HÜDA PAR. Nach Angaben des Parteichefs ist dies jedoch nicht der Fall, die Partei sei in dem Dorf auch nicht organisiert.
Ein AKP-Abgeordneter aus Diyarbakır, Galip Ensarioğlu, hatte zuvor erklärt, die Familie stehe ihm nahe und es gebe "Dinge, die wir nicht wissen und manchmal Dinge, die wir wissen sollten, aber nicht wissen". Ensarioğlu relativierte seine Aussage kurz darauf und sagte, sie sei aus dem Zusammenhang gerissen worden - er halte keine Informationen zurück und wolle die Ermittlungen nicht behindern.
Politiker versprechen Aufklärung
Und diese dauern an. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, was genau passiert ist. Narin ist mittlerweile beerdigt, der vorläufige Autopsiebericht zeigt keine Hinweise auf sexuelle Gewalt. Nur: Warum musste sie sterben? Kaum ein Politiker, der nicht zu dem Fall Stellung bezieht. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan verspricht Aufklärung. Er will den Fall persönlich verfolgen, damit "diejenigen, die uns Narin weggenommen haben, die härteste Strafe erhalten", so der türkische Präsident bei X.
Minister und Politiker besuchen das kurdische Dorf im Südosten der Türkei. Auch Yılmaz Tunç, der türkische Justizminister, war vor Ort und versprach Aufklärung. Tunç sagte bei einer Pressekonferenz, diejenigen, die Narin getötet haben, würden definitiv zur Rechenschaft gezogen werden. "Sie werden den höchsten Preis für ihre Verbrechen zahlen", so Tunç. Die Regierung werde alle notwendigen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass jedes einzelne Kind in Sicherheit und Frieden aufwachse und eine Zukunft voller Hoffnung erreiche.
Solche Worte findet die Anwältin Pamuk nicht hilfreich - im Gegenteil,. "Nachdem die Leiche geborgen wurde, wurden große Töne gespuckt. Es wurde gesagt, man wolle nicht zulassen, dass so etwas noch einmal passiert. Wissen Sie was? Bei solchen Aussagen wird mir richtig übel!", so Pamuk.
Frauen protestieren im Istanbuler Stadtteil Kadiköy am 8. September 2024. Der Fall Narin hat eine große Debatte über Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgelöst.
"Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie"
Vermutlich ist der Grund für die intensive Debatte auch, dass dieser Fall Erinnerungen weckt: Zum Beispiel an den Missbrauchsfall aus den 2010er Jahren in der Koranschule einer regierungsnahen Stiftung. Oder an den Großbrand in Adana, bei dem mehrere Kinder im Heim einer religiösen Vereinigung zu Tode kamen. Oder an die heute erwachsene Frau, die als Sechsjährige mit einem Ordensmann verheiratet wurde.
Hängen solche Fälle zusammen? Für den Soziologen Semih Turan ist die Antwort eindeutig: "Vor allem im Osten und Südosten der Türkei gibt es vorherrschende Strukturen, die solche Fälle begünstigen. Etwa die feudale Struktur oder geschlossene Familienstrukturen." Ereignisse, die innerhalb dieser Strukturen passieren würden, dringen nicht nach außen. "Ein türkisches Sprichwort sagt: 'Ist der Arm gebrochen, bleibt er im Ärmel versteckt.' Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie".
Wendepunkt der Gesellschaft?
Wie in einem Krimi gehe es jetzt in den Nachrichten darum, aufzuklären, was genau passiert sei und wer den Tod verursacht habe. Doch die wichtigen gesellschaftlichen Debatten würden nicht geführt, so der Wissenschaftler Turan. Medien hätten mit der durchgehenden Berichterstattung das Ziel, Quote zu machen. Ein paar Wochen später werde niemand mehr über Narin sprechen, fürchtet er.
Doch kann so ein Fall ein Wendepunkt für die Gesellschaft sein, um das Problem grundsätzlicher anzupacken? Soziologe Turan glaubt das nicht: "In den ländlichen Gebieten der Türkei gibt es diese Stammesstruktur, eine geschlossene Gesellschaft. Damit sich hier wirklich etwas ändert, sind große Reformen und Transformationen erforderlich." Dafür gebe es aber weder einen gesellschaftlichen noch einen politischen Willen, so Turan. "Denn die politischen Parteien gewinnen Stimmen aus diesen Strukturen und unterstützen sie deshalb. Was wir brauchen, ist ein Mentalitätswandel - den es aber nicht gibt."