Stichwahl in der Türkei Welcher Präsidentschaftskandidat hat welche Chancen?
Wer regiert künftig als Staatschef die Türkei? Heute entscheidet die Stichwahl zwischen Amtsinhaber Erdogan und Herausforderer Kilicdaroglu. Die Spaltung in der Bevölkerung könnte einen politischen Wechsel erschweren.
"Im zweiten Wahlgang werden wir Recep Tayyip Erdogan unterstützen." Das erklärte Anfang der Woche der Nationalist Sinan Ogan. Ihm ist mit 5,2 Prozent Stimmenanteil im ersten Durchgang der türkischen Präsidentschaftswahl ein Achtungserfolg gelungen. Sollten die meisten seiner Anhängerinnen und Anhänger nun tatsächlich Erdogan wählen, dürfte es für den Amtsinhaber locker reichen. Immerhin ist er nur knapp unter der absoluten Mehrheit geblieben.
Aber Ümit Özdag, Chef der nationalistischen Zafer-Partei, macht es noch einmal spannend: "Wir haben als Zafer-Partei beschlossen, im zweiten Wahlgang Herrn Kilicdaroglu zu unterstützen. Viel Glück!"
Die Zafer-Partei war in dem kleinen Bündnis, das Ogan unterstützt hatte, stärkste Kraft. Doch selbst wenn Kilicdaroglu durch die Zafer-Partei zwei oder sogar drei Punkte hinzugewinnen könnte, würde es für ihn nicht reichen.
Also versucht er, noch mehr Wählerinnen und Wähler aus dem nationalistischen Lager auf seine Seite zu ziehen - und die schlechter gewordene Stimmung gegenüber den rund vier Millionen Geflüchteten im Land zu nutzen. Kilicdaroglu spricht sogar von zehn Millionen und kündigt an:
Sobald ich an die Macht komme, werde ich alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt!
Neue Wählerinnen und Wähler gewinnen - schwierig in der Türkei
Kilicdaroglu tritt lauter auf als zuvor, bestimmter. Obendrein malt er eine Türkei in den dunkelsten Farben, sollte Erdogan an der Macht bleiben. Sehr durchsichtig findet all das der Politikwissenschaftler Ilhan Uzgel im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul: "Das ist ein taktisches Manöver. Wir werden sehen, ob sich das auszahlt. Kann man ausprobieren, aber wenn man mich fragt, ist das nicht überzeugend."
Neue Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, sagt Uzgel, ist in der Türkei ohnehin schwierig. Erdogans AKP habe eine Art eigenes Wählerprofil geschaffen, indem sie einfache Erklärungen anbietet: An allem, was schieflaufe, sei das Ausland schuld. Bei vielen verfängt das, sagt Uzgel, sodass Erdogans Anhänger fest hinter ihm stehen. So fest, dass ihm nicht einmal sein indirektes Eingeständnis, mit gefälschten Videos Stimmung gegen Kilicdaroglu zu machen, gefährlich zu werden scheint.
"Es gibt nur wenige Wechselwähler in der Türkei, denn die Politik des Landes ist polarisiert", so Uzgel. Je polarisierter, desto weniger Wechselwähler gebe es. "Die Menschen fühlen sich einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zugehörig. Und daran klammern sie sich", so der Politikwissenschaftler.
Wahlbeobachter sehen keine Anzeichen massiven Betrugs
Allerdings gibt es Zweifel, ob Erdogan in der ersten Runde wirklich so viele Stimmen bekommen hat, wie es das vorläufige amtliche Wahlergebnis ausweist. Vorwürfe des Wahlbetrugs stehen im Raum.
Die oberste Wahlbehörde sieht dafür bislang keine Belege. Und auch internationale Wahlbeobachter glauben nicht an Betrug in großem Stil, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete und Leiter der Beobachterdelegation des Europarates, Frank Schwabe: "Am Ende geht es darum, ob wir glauben, dass das Ergebnis massiv verfälscht wurde - und nach unserer Einschätzung war das nicht der Fall."
Damit müsste davon auszugehen sein, dass auch das Ergebnis der zweiten Runde den Willen der Wählerinnen und Wähler abbildet.