Besetztes Cherson "Angefangen, alles Ukrainische zu unterdrücken"
Seit Monaten steht Cherson unter russischer Besatzung. Eine Bewohnerin, der die Flucht gelang, berichtet im tagesthemen-Interview von dem Regime, das Russland dort errichtet hat und der Russifizierung des Lebens.
ARD: Sie sind vor zwei Wochen aus Cherson nach Kiew gekommen, gemeinsam mit Ihrem Mann und mit Ihrem siebenjährigen Sohn Kyrill. Wie haben Sie es geschafft, aus Cherson herauszukommen?
Olga: Das ist eher zufällig gelungen. Es gibt spezielle Telegram-Kanäle mit Evakuierungs-Chats. Nach sieben Tagen wurde mir plötzlich in einem solchen Chat geschrieben: Sind Sie bereit zu fahren? Sie haben 24 Stunden zum Packen, nur 24 Stunden! An diesem einen Tag habe ich haufenweise Dinge erledigt, viele Sachen gepackt und sie irgendwohin gebracht… Und so haben wir alles zusammengepackt. An einem Tag. Wir haben alles stehen und liegen lassen. Wir hatten ja eine Mietwohnung. Viele Sachen sind einfach da geblieben. Wir haben nur zwei Taschen mitgenommen, sind in den Bus gestiegen und gefahren. Die Fahrt hat zwei Tage und zwei Nächte gedauert.
Ein halbes Jahr nach Russlands Angriff auf die Ukraine: Wie leben die Menschen im Krieg und mit seinen Folgen? tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga ist mit WDR-Reporter Vassili Golod eine Woche durch das Land gereist und hat mit Ukrainerinnen und Ukrainern über Leben und Überleben im Krieg gesprochen. Die Reise endete am 24. August - dem Unabhängigkeitstag der Ukraine und dem Tag, an dem vor sechs Monaten die russische Invasion begann. Zu diesem Anlass wurden die tagesthemen live aus Kiew gesendet, moderiert von Caren Miosga.
ARD: Und wie ist es Ihnen auf der Fahrt ergangen?
Olga: Donner, Gewitter, Schlagregen - und dann: Raketen in der Nähe, Flugabwehr über unseren Köpfen. Ich wusste nicht, ob wir es überleben würden. Das war die schlimmste Zeit, von zwei Uhr nachts bis fünf Uhr morgens. Wir saßen alle so im Bus - mit den Händen über dem Kopf (macht die Haltung vor, Anmerkung der Redaktion). Nur die Kinder haben geschlafen - erstaunlicherweise. Einige von uns haben gebetet… Mir zittern immer noch die Hände, wenn ich daran denke.
Ich dachte: Mein Gott, wo bleibt diese Dämmerung? Wann können wir endlich weiterfahren? Man muss durch diesen Korridor zwischen den Fronten eigentlich schnell durchfahren. Aber wir sind da steckengeblieben. Und als es endlich fünf Uhr morgens war, ging es wieder los… Wir sind mitten in ein Feuergefecht geraten. Sie haben uns gar nicht beachtet. Zwei-, dreihundert Meter von uns entfernt ist etwas explodiert, das hat den Bus in die Luft gehoben - es war schrecklich. Das ist nicht in Worte zu fassen. Man dachte: "Oh Gott, gleich trifft etwas den Bus." Es hat ganz in der Nähe geknallt.
"Manch einer kam zurück, andere nicht"
ARD: Ich habe das Video gesehen, das Sie während dieser letzten Minuten, kurz vor dem ukrainischen Checkpoint gedreht und auf TikTok veröffentlicht haben. Man sieht Sie da, es ducken sich alle; Sie und der ganze Bus haben Angst. Für uns unvorstellbar. Können Sie ein bisschen beschreiben, wie es Ihnen ging?
Olga: Sehr schwer, ich kann es nicht beschreiben, das lässt sich nicht erklären. Fünf Monate unter Besatzung... Als dieser "russische Frieden" gekommen ist mit seinen Regeln und allem, da habe ich so eine Sehnsucht bekommen, so eine Sehnsucht - fünf Monate lang! Ich habe verstanden, was die Ukraine, was die Heimat ist. Sie ist hier. Man darf es nicht unterdrücken, auch wenn man unter Besatzung lebt. Das hat einem Halt gegeben.
Als ich den ersten Checkpoint unserer Armee gesehen habe, dieses riesige ukrainische Schild… Ich kann es nicht beschreiben. Es waren Tränen, Freudentränen, es war ein Nachhausekommen in die Freiheit. Du spürst die Freiheit. Die Ukraine ist schon seit vielen Jahren ein demokratischer Staat. Hier gibt es nicht solche Repressalien wie in Russland. Man darf dort das Wort Krieg nicht aussprechen. Wie kann das sein, was ist das? Das ist erlaubt, das nicht… Dieses Wort ist abgeschafft, das darf man nicht sagen… Dafür wird man verhaftet… Daher ist es ein besonderes Gefühl, in Freiheit zu sein, bei den eigenen Leuten. Als die Kinder aus dem Bus gestiegen sind, wurden alle umarmt und geküsst. Einem Soldaten ist sogar eine Träne runtergekullert. Das war so ein besonderer Moment.
"Es hat sich alles komplett verändert"
ARD: Wir haben wenig Einblick in die von den russischen Truppen besetzten Gebieten. Können Sie uns ein bisschen schildern, wie der Alltag da aussieht? Wie hat sich das Leben dort verändert?
Olga: Es hat sich alles komplett verändert. Wir können jede beliebige Kleinigkeit nehmen, alles hat sich um 180 Grad gedreht. Ich fange mit den kleineren Sachen an: Sie haben uns in den ersten Tagen russisches Fernsehen aufgedrückt, deren Propaganda. Ich habe das maximal fünf Minuten ausgehalten. Ich habe mir deren Nachrichten angesehen - genau fünf Minuten. Und habe verstanden, was für einen Unsinn sie von sich geben. Wir haben dann nur die beiden Unterhaltungskanäle geschaut und den Trickfilm-Kanal für meinen Sohn. Was anderes haben wir nicht geguckt.
Die Atmosphäre in der Stadt war erdrückend. Die Geschichten der Menschen, wenn du in der Schlange wartest. Die Schlangen für die Lebensmittel waren sehr lang, die Preise sind in die Höhe geschnellt. Sie haben angefangen, alles Ukrainische zu unterdrücken. Ukrainische Symbole durften nicht getragen werden. Es war nicht erwünscht Ukrainisch zu sprechen. Telefone wurden kontrolliert. Wenn man in einem Minibus unterwegs war, konnten sie den Bus anhalten und die Telefone kontrollieren. Gott bewahre, wenn da was Ukrainisches drauf war oder etwas Kritisches gegen sie. Es reichten schon irgendwelche Chats bei Facebook oder anderen sozialen Medien. Die Menschen wurden mitgenommen. Manch einer kam zurück, andere nicht. Und man weiß nicht, wo sie geblieben sind. Manche sind immer noch verschwunden.
"Sie hatten keine Wahl"
ARD: Es gab von Anfang an Spekulationen darüber, dass es Kollaborateure gibt, Leute, die sich nicht wehren wollten. Gab es die auch in Cherson?
Olga: Viele wurden dazu gezwungen. In erster Linie waren es besonders verletzliche Menschen. Diejenigen, die nichts mehr zu essen hatten. Sehr viele Betriebe wurden ja geschlossen und Menschen hatten keine Arbeit mehr. Die Lebensmittelvorräte reichten vielleicht für drei Wochen oder einen Monat. Bei uns hat es für zwei Monate gereicht, auch das Geld. Danach mussten wir uns auch irgendwie durchschlagen. Aber viele Menschen waren einfach gezwungen, sich humanitäre Hilfe bei den Russen zu holen.
Und dann die Rentner: Im März und April hat die Ukraine die Rente noch gezahlt - sei es per Post oder Überweisung. Danach war Schluss. Im Mai und Juni haben sie (gemeint sind die russischen Besatzer, Anmerkung der Redaktion) ihr Rentensystem eingeführt. Du willst essen? Willkommen, komm und hol deine Rente. Und die Menschen waren gezwungen, hinzugehen, um Hilfe und Rente zu bekommen. Sich eben anzupassen. Was blieb ihnen auch übrig? Entweder sterben oder… Sie hatten keine Wahl.
Ich sagte es bereits, sehr viele wollten das nicht. Die jungen Menschen sind schnell geflohen. Aber diejenigen, die nicht weg konnten und immer noch nicht können, haben keine andere Wahl. Hauptsache sie bekommen jetzt nicht so schnell russische Pässe, das wäre furchtbar.
"Wir müssen alles befreien"
ARD: Glauben Sie, es ist realistisch, dass Cherson zurückerobert werden kann?
Olga: Natürlich glaube ich daran. Wir müssen alles befreien, alles zurückholen. Die Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja, Cherson und die Krim - das ist alles Ukraine. Unsere Souveränität ist doch schon seit langem weltweit anerkannt. Es ist an der Zeit, solche Kriege zu beenden und diese "grünen Männchen" zu vertreiben.
Ich glaube daran: Die ganze Welt schaut endlich darauf, was hier passiert. Es ist nicht einmal ein Krieg, sondern ein Völkermord. Sie sind Terroristen. Russland ist ein Terrorstaat. Wohnhäuser beschießen, Städte, Geburtshäuser, Krankenhäuser - was ist das? Ist das ein Krieg? Das ist kein Krieg. Die ganze Welt schaut zu. Die ganze Welt hilft. Wir bekommen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Waffen.
"Die Welt muss sich vereinen"
ARD: Damit die Ukraine diese Gebiete zurückerobern kann, braucht sie viel Unterstützung vom Westen, auch von Deutschland. Und auch in unserem Land lässt das Interesse der Öffentlichkeit nach. Welche Botschaft haben Sie an die Deutschen, an unsere Zuschauer?
Olga: Ohje. Das ist schwer in Worte zu fassen. Weil Menschen, die in ihrem eigenen Haus sind, in ihrem eigenen Bett schlafen, zur Arbeit gehen, im eigenen Land leben, denen niemand etwas tut - die werden das nicht verstehen. Es gibt hier ein Sprichwort: Der Satte versteht den Hungrigen nicht. Vielleicht passt es nicht ganz… Was ich damit sagen möchte: Es ist wichtig zu verstehen, dass Russland nicht aufhören wird. Man muss es aufhalten. Jetzt sind sie in die Ukraine gekommen, aber sie werden wie eine Horde weiterziehen. Sie sprechen schon offen darüber, erklären das ganz direkt.
Solange keine Raketen bei Euch einschlagen, in Euer Haus, ist es besser, das jetzt hier aufzuhalten. In Keim zu ersticken - obwohl man es ja schon gar nicht mehr als Keim bezeichnen kann. Denn Millionen Menschen haben schon so viel Leid erfahren! Das muss beendet werden. Wir müssen das verstehen. Die ganze Welt muss sich vereinen, um das Böse zu besiegen.
Aus Sicherheitsgründen möchte Olga ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen.
Das Gespräch führte Caren Miosga, tagesthemen.