Kampf um Hafenstadt Berichte über Massengräber bei Mariupol
Im ukrainischen Manhusch sollen örtlichen Angaben zufolge bis zu 9000 Menschen in Massengräbern verscharrt worden sein. Der Bürgermeister spricht von einem "neuen Babyn Jar".
In der Ortschaft Manhusch in der Nähe von Mariupol sollen russische Soldaten nach ukrainischen Angaben Tausende Bewohner der wochenlang umkämpften Stadt in Massengräbern verscharrt haben.
Bürgermeister Wadym Bojtschenko warf den Russen einen Völkermord vor und rief die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf, wie der Stadtrat von Mariupol auf Telegram mitteilte. Bis zu 9000 Zivilisten könnten dort begraben sein, hieß es.
Auch auf neuen Satellitenbildern des Unternehmens Maxar Technologies war etwas zu sehen, was nach einem Gräberfeld bei Manhusch aussah. Maxar erklärte, es seien mehr als 200 Massengräber. Anhand vorheriger Sattelitenbilder sei klar, dass die ersten Ende März ausgehoben worden und stetig neue dazugekommen seien.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Bürgermeister spricht von "neuem Babyn Jar"
Mit Blick auf den Ort des Massakers an rund 34.000 Juden in Kiew im Zweiten Weltkrieg sprach Bürgermeister Bojtschenko von einem "neuen Babyn Jar". "Damals tötete Hitler Juden, Roma und Slawen. Und jetzt vernichtet Putin Ukrainer. Er hat in Mariupol schon Zehntausende Zivilisten getötet", wurde Bojtschenko vom Stadtrat zitiert. "Das erfordert eine entschlossene Reaktion der gesamten Welt. Wir müssen diesen Völkermord stoppen, mit allen Mitteln, die möglich sind."
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Auf den Satellitenaufnahmen ist eine lange Gräberreihe zu sehen, die an einen bestehenden Friedhof in Manhusch, rund 20 Kilometer westlich von Mariupol, angrenzt. Ukrainische Medien verglichen die Gräber dort mit jenen in Butscha bei Kiew, wo nach dem Abzug russischer Soldaten Hunderte Leichen gefunden worden waren. Unabhängig konnten die ukrainischen Angaben nicht überprüft werden.
In einer anderen Stellungnahme sagte Bürgermeister Bojtschenko, die Leichen seien nach und nach von den Straßen Mariupols verschwunden, mit Lastwagen abtransportiert und in die bei Manhusch ausgehobenen Gräben geworfen worden. Er warf den russischen Soldaten vor, damit ihre Verbrechen vertuschen zu wollen.
Mariupols Bürgermeister: Das Leben der Zivilisten liegt in Putins Händen
Über das Schicksal der noch immer rund 100.000 eingeschlossenen Zivilisten in Mariupol entscheidet nach den Worten des Bürgermeisters allein der russische Präsident Wladimir Putin. "Es ist wichtig zu verstehen, dass das Leben der Menschen, die noch dort sind, in den Händen einer einzigen Person liegen - Wladimir Putin. Und alle Todesopfer, die noch hinzukommen, gehen auch auf sein Konto", sagt Bojtschenko.
Nach Angaben aus Kiew dauert der Widerstand in Mariupol derweil an. Die Stadt widersetze sich weiter Russland, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft. "Trotz allem, was die Besetzer über sie sagen."
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte die Stadt am Donnerstagmorgen für erobert erklärt. Allerdings haben sich in dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol nach russischen Angaben mehr als 2000 ukrainische Kämpfer und ausländische Söldner verschanzt. Sie gingen bisher nicht auf Putins Forderungen ein, die Waffen niederzulegen.
Tote und Verletzte nach Beschuss in mehreren ukrainischen Regionen
Selenskyj sagte weiter, Russland verlege weiter Truppen für den Krieg in die Ukraine. "Sie sammeln Kräfte und treiben neue taktische Bataillone in unser Land." Im Osten und Süden des Landes täten russische Einheiten "alles", um wenigstens von "irgendwelchen" Siegen sprechen zu können.
Ukrainischen Angaben zufolge sind in verschiedenen Regionen im Osten und Süden des Landes mehrere Menschen durch Beschuss verletzt oder getötet worden. In der Region Charkiw seien zwei Personen getötet worden, nachdem ein Geschoss in ein Auto eingeschlagen war, teilte der Gouverneur Oleh Synjehubow am Abend mit. Zwei weitere Personen seien bei zwei weiteren separaten Vorfällen verletzt worden. Insgesamt seien am Donnerstag in der Region Charkiw etwa 50 russische Angriffe durch Artillerie und Mehrfachraketenwerfer registriert worden, sagte Synjehubow.
Aktive Gefechte gebe es nahe der Kleinstadt Isjum. Aus der südukrainischen Stadt Saporischschja hieß es, bei zweimaligem Beschuss der Stadt am Donnerstagmittag seien acht Personen verletzt worden. Das teilte der Gouverneur des Gebiets, Olexander Staruch, am Abend auf Telegram mit.
Eine Rakete sei auf der Insel Chortyzja eingeschlagen unweit einer Brücke. Zu dieser Zeit sei ein Evakuierungszug in Richtung Lemberg über die Gleise der Brücke gefahren. Infolge der Druckwelle der Explosion seien die Fenster von vier Waggons zerstört worden sowie die Fenster von Autos, die gerade auf der Brücke waren. Bei einem zweiten Einschlag seien die Gebäude eines Sanatoriums beschädigt worden.
Aus der Region Dnipropetrowsk hieß es, am Donnerstagabend sei im Bezirk Nowomoskowsk nordöstlich der Gebietshauptstadt Dnipro Eisenbahninfrastruktur angegriffen worden. Infolge von drei Raketenangriffen seien fünf Menschen verletzt und Bahngleise vollständig zerstört worden, schrieb der regionale Verwaltungschef Walentyn Resnitschenko auf Telegram.
Aus der südlichen Großstadt Mykolajiw wurde am Abend eine Explosion gemeldet. "Vor kurzem donnerte wieder eine Explosion über der Stadt", schrieb der Bürgermeister der Stadt, Olexander Senkewytsch, am Abend auf Telegram. Er rief die Bürger der Stadt dazu auf, die nächtliche Ausgangssperre zu beachten. In der Nacht zum Donnerstag seien in der Stadt eine Person getötet und zwei weitere im Zuge des Beschusses verletzt worden. Alle drei seien ungeachtet der Ausgangssperre auf der Straße gewesen. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Ukraine: Russische Truppen haben 42 Orte in Donezk eingenommen
Nach Angaben aus Kiew haben russische Truppen binnen 24 Stunden inzwischen 42 Orte in der Region Donezk im Osten des Landes besetzt. Das teilte eine Beraterin des ukrainischen Präsidentenbüros, Olena Simonenko, im ukrainischen Einheitsfernsehen mit, wie die Agentur Unian berichtete. Insgesamt kontrollierten russische Einheiten aktuell in der gesamten Ukraine mehr als 3500 Orte. Kampfhandlungen gebe es in 11 550 Orten des Landes, sagte Simonenko.
Am Donnerstag hieß es von ukrainischer Seite, dass mittlerweile 80 Prozent der ebenso an Russland grenzenden Nachbarregion von Donezk, Luhansk, unter russischer Kontrolle stünden.