Von Russland besetzte Gebiete Mit Drill Patrioten formen
Russische Jugendorganisationen sind in den besetzten Gebieten der Ukraine ein Instrument der Militarisierung. Auch die Schulen sollen dort die Russifizierung der jungen Generation vorantreiben.
Sie singen von der Bestimmung, "Russland zu dienen", auch wenn der "Weg im Krieg" oft "schwer" sei: Die Hymne der "russischen national-patriotischen Bewegung Junarmija" (auf Deutsch: Junge Armee) stimmt Kinder und Jugendliche in Russland auf Patriotismus und Kriegsdienst ein - mittlerweile auch außerhalb seiner Grenzen in den besetzten Gebieten der Ukraine.
Junarmija-Gruppen richten sich offiziell an Kinder ab acht Jahren, russische TV-Sender zeigen jedoch auch Berichte über Kinder, die bereits im Kindergartenalter in die Bewegung aufgenommen werden.
Briefe an russische Soldaten
Ihre Mitglieder tragen ein flammend rotes Oberhemd und ein Barrett, auf dem ein Adlerkopf und der Stern der russischen Armee zu sehen sind.
Sie schreiben regelmäßig Briefe an russische Soldaten, organisieren Hilfssammlungen und werden auf einen möglichen Militärdienst vorbereitet, indem sie beispielsweise lernen, wie man ein Sturmgewehr vom Typ AK-47 auseinandernimmt und wieder zusammenbaut.
Aufenthalte in Jugendlagern
In internen Dokumenten brüstet sich Junarmija mit ihrer Unterstützung für den Krieg gegen die Ukraine. Ihre Mitglieder hätten mehr als drei Millionen Briefe an das russische Militär geschrieben und fast 80.000 Videogrüße und Videos gedreht. Außerdem hätten Mitglieder der Bewegung regelmäßig verwundete russische Soldaten in Krankenhäusern besucht.
Zum festen Programm von Junarmija und ähnlichen Organisationen gehören Aufenthalte in Jugendlagern. Nach der Besetzung und völkerrechtswidrigen Annektierung ukrainischer Gebiete wurde auch dort eine entsprechende Infrastruktur errichtet. Pro forma als Angebot - faktisch können ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten sich einem Aufenthalt kaum verweigern. Dort werden sie dann in Patriotismus, Landeskunde und russischer Geschichte unterwiesen und erhalten auch ein militärisches Training.
Russische Jugendlager in den besetzten Gebieten der Ukraine.
Jugendliche früh auf das Militär ausrichten
Gegründet wurde Junarmija 2016 auf Initiative des damaligen Verteidigungsministers Sergej Schoigu. Aufgabe der Organisation sei es, die russische Vorherrschaft zu festigen und seine Kriegsanstrengungen zu fördern, sagt Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Außerdem werde damit die "Rekrutierung neuer Soldaten" betrieben - nicht unbedingt nur für den aktuellen Krieg mit der Ukraine, sondern auch für künftige Konflikte. Entsprechende Absichten findet man in internen Papieren von Junarmija. Dort wird als ein Ziel genannt, die Zahl der Mitglieder zu erhöhen, die zum Wehrdienst einberufen werden.
Neun Jahre nach der Gründung sollen zwischen 1,3 Millionen Jugendliche Mitglieder von Junarmija sein - das jedenfalls gibt sie auf ihrer Webseite an. In internen Dokumenten ist aber sogar von mehr als 1,7 Millionen Mitgliedern die Rede. Der Staat fördert diese und ähnliche Organisationen jedes Jahr mit Milliarden Rubel.
Die Organisation könne auch dazu benutzt werden, von innenpolitischen Problemen abzulenken, sagt Meister. Es gehe "um patriotische Erziehung für Russland und darum, ein Heer loyaler Jugendlicher zu schaffen, die man später auch in der Armee einsetzen kann".
Wegen ihrer Unterstützung für den Krieg gegen die Ukraine und wegen ihrer Verbreitung von Propaganda ist Junarmija von der EU und einzelnen Staaten mit Sanktionen belegt worden.
Eine andere Identität
In den besetzten Gebieten der Ukraine betreibt Junarmija die patriotische Umerziehung ukrainischer Kinder.
"Es geht darum, den Kindern ihre eigene ukrainische Identität zu nehmen und sie als Instrument zu benutzen, um ihre Eltern zu beeinflussen", sagt Yuriy Sobolevsky vom Regionalrat von Cherson.
Die Region links des Flusses Dnipro ist seit Frühjahr 2022 von russischen Truppen besetzt. Das rechte Ufer, wo Sobolevsky inzwischen lebt, wurde Ende 2022 wieder befreit, wird aber ständig von russischer Artillerie und Flugzeugen beschossen.
Für Sobolevsky ist das Ziel Russlands klar: Eine ganze Generation von Ukrainern solle zu "neuen anpassungsfähigen Russen" gemacht werden.
Junarmija nennt in einem internen Dokument vom November die Zahl von 16.579 Jugendlichen, die in den besetzten Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson als Mitglieder der Organisation eingeschrieben seien.
Hunderttausende Kinder nach Russland gebracht?
Dabei ist Junarmija nur einer von vielen Versuchen des Kremls, ukrainische Kinder zu indoktrinieren und die ukrainische Identität in den eroberten Gebieten zu brechen.
Dazu gehört auch, elternlose ukrainische Kinder nach Russland zu bringen, wo sie zur Adoption freigegeben werden. Wie viele Kinder dies betrifft, ist schwer zu beziffern. Die ukrainische Regierung und Nicht-Regierungsorganisationen schätzen ihre Zahl auf rund 20.000.
Maria Lwowa-Belowa, die russische Beauftragte für Kinderrechte, gab im vergangenen Jahr an, seit 2022 seien bis zu 700.000 ukrainische Kinder nach Russland gekommen, die meisten in Begleitung von Eltern oder anderen Verwandten. Was danach mit ihnen geschah, geht aus dem Statement nicht hervor.
Haftbefehl gegen Putin
Seit März 2023 liegt gegen sie und den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor. Ihnen wird die illegale Deportation ukrainischer Kinder vorgeworfen - laut Haftbefehl ein Kriegsverbrechen.
Dmytro Lubinets, der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, beziffert die Zahl der Kinder in den besetzten Gebieten auf insgesamt 1,5 Millionen. "Wie viele von ihnen sind bereits deportiert worden? Wir können es nur vermuten", sagt Lubinets.
Wie Russland die Umerziehung durchführt
Eine wichtige Rolle bei der Festigung der russischen Herrschaft in den besetzten Gebieten spielt der Schulunterricht.
Im vergangenen Juni berichtete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über die Indoktrinierung an Schulen, indem dort der russische Lehrplan durchgesetzt werde, der Unterricht auf Russisch erfolge und darin anti-ukrainische Propaganda betrieben werde. Damit verstießen die russischen Besatzer gegen internationales Recht.
Teil der Umerziehung ist auch, den Angriffskrieg Russlands im Schulunterricht zu verherrlichen. In der besetzten Region Cherson werden Schulkinder gezwungen, Filme über die Erfolge und angeblichen guten Folgen der "militärischen Spezialoperation" zu sehen. In der besetzten Stadt Melitopol werden Schulkinder über das "Heldentum" der Soldaten unterrichtet.
Einzige Möglichkeit: Die Flucht
Amnesty International schilderte im Oktober, wie Lehrer in den besetzten Gebieten unter erheblichen Druck gesetzt werden, an die Schulen zurückzukehren und dort die russischen Lehrpläne umzusetzen. Wer sich weigere, werde massiv bedroht. Viele sähen als einzige Möglichkeit die Flucht.
Russische staatlich kontrollierte Medien und regierungsnahe Plattformen berichten häufig über Erfolge bei der Umerziehung ukrainischer Kinder. Anfang November schilderte die Nachrichtenagentur Pobeda (auf Deutsch: Sieg), dass in der besetzten Stadt Mariupol "mehr als 200 Absolventen" eines Ablegers der St. Petersburger Marineschule "im feierlichen Rahmen" Treue auf Russland geschworen hätten.
"Sie haben bereits unsere Statuten und Regeln angenommen. Sie sind bereit, zukünftige Matrosen zu werden", sagte ein Vertreter der russischen Behörden in einem Video.
Eine Generation unter russischem Einfluss
Mit der Umerziehung ukrainischer Kinder "zu loyalen, patriotischen Russen" versuche Russland, eine Botschaft an die Menschen in den besetzten Gebieten und an die eigene Bevölkerung zu vermitteln, sagt Stefan Meister von der DGAP.
Bei den Menschen solle sich der Gedanke festsetzen, dass die Ukraine "keine eigene Identität, keine Staatlichkeit" habe. Ukrainische Kinder sollen 'umgepolt' werden, zu loyalen, patriotischen Russen."
Auch wenn die Umerziehung außerhalb Russlands wie "Kindesmissbrauch - auf staatlich organisierter Ebene" aussehe - für Russland sei sie ein Instrument der Legitimation - sowohl nach innen als auch in der Ukraine selbst, sagt Meister.
Russland setzt dabei auch auf die Zeit. Schon jetzt gibt es eine Generation von Ukrainern, die unter russischer Besatzung und schulischer Indoktrinierung aufgewachsen sind - auf der Krim und im Donbass. Für diese Kinder sind die russischen Erzählungen zu ihrer einzigen Realität geworden und prägen ihr Verständnis von Geschichte, Identität und Wahrheit.