Ein zerstörtes Haus in Kiew.
Reportage

Opfer des russischen Raketenbeschusses "Ich kann nicht mehr weinen"

Stand: 05.01.2023 13:14 Uhr

Die Angst begleitet die Ukrainerinnen und Ukrainer täglich - denn jederzeit kann irgendwo eine Rakete einschlagen. Viele Menschen stehen vor den Trümmern ihres Lebens.

Von Andrea Beer, WDR, zurzeit in Kiew

"Alles voller Scherben", seufzt Galina Dmitryewna und sammelt die Reste ihrer Einmachgläser vor ihrem Haus in Kiew in einen Eimer. "Das ist ein Gruß aus Russland zum neuen Jahr", meint sie ironisch und bückt sich wieder. Um sich nicht zu schneiden, trägt sie dicke Handschuhe. Mit dem Ärmel ihres grauen Wollpullovers wischt sie sich den Schweiß von der Stirn.

Nur rund 20 Meter entfernt schlug am Silvestertag die russische Rakete ein.

"Wann ist es endlich vorbei"

"Der Luftalarm hat so gegen ein Uhr angefangen, und um zwei Uhr ist alles zusammengestürzt, die Uhr ist um zwei Uhr stehen geblieben", erzählt Dmitryewna. Sie habe mit ihrem Mann in der Küche gesessen:

Als alles anfing, war das sehr beängstigend, denn es war so laut, und es ist gut, dass wir nicht in ein anderes Zimmer gegangen sind, denn sonst würden wir nicht mehr leben. Wir saßen da, und es hat so laut gekracht, und du denkst, wann ist das denn endlich vorbei.
Galina Dmitryevna

Galina Dmitryewna hat überlebt - rund 20 Meter von ihrem Haus entfernt schlug eine russische Rakete ein.

Seine Frau kochte gerade das Essen

Ein paar Meter weiter die Straße hinauf steht Serhii Karagizkyj in den Trümmern seines Lebens. Als die Rakete direkt vor dem Haus einschlägt, kocht seine Frau gerade das Silvesteressen für ihn und den zehnjährigen Sohn. Der hochgewachsene Mann Mitte dreißig balanciert über den Schutt in die Ruine seines Hauses.

Hier war die Küche, berichtet er: "Als ich meine Frau gefunden habe, lag sie genau dort. Da ist der Herd, und da stand eine Spülmaschine. Sehen Sie, dort ist sie, mit zerdrückter Vorderseite. Meine Frau lag unter der Spülmaschine. Ich habe sie hervorgezogen, aber sie hat nicht mehr geatmet." 

Auch die umliegenden Häuser sind zerstört oder beschädigt. Ratlos hebt er eine Pfanne auf und ein Glas mit goldenem Honig, das inmitten der Trümmer heilgeblieben ist: "Innerhalb einer Sekunde hatte ich nichts mehr. So war es. Innerhalb einer Sekunde war nichts mehr übrig."

Serhii in den Trümmern seines Hauses.

Von Serhii Karagizkyjs Haus ist kaum noch was übrig. Seine Frau kochte gerade das Silvesteressen, als die Rakete einschlug.

Auch 2023 bleibt der Krieg das Thema

"Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bleibt 2023 das alles bestimmende Thema", sagt Ihor Popov vom Institut für Zukunft in Kiew. Damit hingen unter anderem auch Ernährungs- und die nukleare Sicherheit zusammen, auch die Versorgung mit Energie. Die territoriale Integrität sei das Wichtigste, doch das Zurückerobern der besetzten Gebiete sei sehr schwierig. Um dies zu erreichen, brauche die Ukraine verlässliche Waffenunterstützung ihrer Partner, die in einem Abkommen festgehalten werden könnte.

Die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld sind die Grundlage für Diplomatie, sagt der Politikexperte. Er halte ein schrittweises Zurückdrängen der russischen Armee aus den besetzten ukrainischen Gebieten für denkbar. Es könnte aber auch beiden Seiten in einigen Monaten die Munition ausgehen. Die Entwicklungen seien schwer vorherzusagen, sagt Popov. Auch Monate vor der Befreiung der südlichen Stadt Cherson habe dies niemand wirklich prognostiziert.

Sehr viel Geld für Wiederaufbau nötig

In Russlands Krieg gegen die Ukraine spielten unter anderem auch Nachschub, Erschöpfung oder Wirtschaft eine große Rolle. Stand jetzt benötige das Land allein für den Wiederaufbau mehr als 700 Milliarden US-Dollar, schätzt Regierungschef Denys Schmyhal.

Politikanalyst Popov hält darüber hinaus Folgendes für wichtig: Es gebe auch eine politische Herausforderung. Seit fast einem Jahr seien die bürgerlichen Freiheiten durch das Kriegsrecht eingeschränkt und es fehle politischer Pluralismus: "Für Ukrainer ist das mit das Wichtigste, was sie in den letzten 30 Jahren der Unabhängigkeit erkämpft haben. Und es ist wichtig, den demokratischen Pluralismus für die Zeit nach dem Sieg zu bewahren."

Auch unangenehme Szenarien möchte Popov nicht ausblenden. So könnten andere Kriege auf der Welt die Verbündeten von der Ukraine ablenken, man müsse wirtschaftliche Einflüsse bedenken, oder der Krieg könne aufgrund von Munitionsmangel auf beiden Seiten einfrieren. Es gäbe also eine Menge Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte.

Traum für jeden Ukrainer: das Ende des Krieges

Präsident Wolodymyr Selenskyj wünschte den Menschen ein Jahr des Sieges und sprach damit nicht nur Aleksandr aus Kiew aus der Seele: "Wir alle warten so sehr auf den Sieg. Das ist der einzige Traum, ich denke für jeden in der Ukraine: Dass der Krieg zu Ende ist, und wir friedlich und normal leben können."

Serhii Kargizkyj versucht, nach dem Tod seiner Frau irgendwie weiter zu leben, gemeinsam mit seinem kleinen Sohn. Noch immer steht er in den Trümmern, die gerade noch sein Zuhause waren. 

Ich nehme Tabletten, um mich zu beruhigen. Ich kann nicht mehr weinen, und ich nehme die Tabletten, weil es nicht anders geht. Ich bin hier aufgewachsen, ich habe hier gelebt, meine Frau ist hier gestorben. Alles, was ich hatte, war hier. Jetzt habe ich noch diese Pfanne und ein Bügeleisen.