Russlands Invasion der Ukraine Wie der Krieg die NATO verändert
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch die NATO verändert. Das Militärbündnis rüstet auf und hilft der Ukraine. Allerdings stört der Sonderkurs eines Landes die Einheit.
Überraschend kam der Einmarsch für die NATO nicht. Man hatte sich vorbereitet im Brüsseler Hauptquartier. Dieses Mal wollte man nicht überrollt werden von den Ereignissen - wie sechs Jahre zuvor, als Russland die Krim fast geräuschlos annektieren konnte und Brüssel tatenlos zusah.
Schon Monate vor dem 24. Februar 2022 hatte die NATO gewarnt, der russische Präsident Wladimir Putin habe bis zu 100.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt. Satellitenbilder dokumentierten den Truppenaufmarsch.
Als russische Soldaten dann einmarschierten, dauerte es nur Stunden, bis die westliche Militärallianz reagierte. "Die NATO steht an der Seite der tapferen Menschen in der Ukraine", versicherte Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Wir stützen die Souveränität der Ukraine, ihre territoriale Integrität und ihr Recht auf Selbstverteidigung." Schnell wurde klar, dass es massive Waffenlieferungen an die Ukraine geben werde.
Keine bedingungslose Hilfe
Ähnlich schnell wurde aber auch klar, dass die Hilfe für die Ukraine Grenzen haben wird. NATO-Mitglieder wollen keine eigenen Soldaten ins ukrainische Kriegsgebiet schicken und auch sonst nicht bedingungslos jede Unterstützung leisten, die Kiew sich wünscht: Keine Flugverbotszone zum Beispiel. Sie müsste garantiert werden durch NATO-Kräfte - und die, das fürchten außer einigen wenigen Osteuropäern fast alle, würden dann schnell zur Kriegspartei. "Die NATO hat eine andere Verantwortung", erklärte Stoltenberg. Die Verantwortung, dass der Konflikt nicht über die Ukraine hinausgeht. Also ins eigene Bündnisgebiet.
Das Leiden in der Ukraine sei furchtbar, sagte Stoltenberg, aber er sagt auch, es sei ja nichts gewonnen, wenn daraus ein offener Konflikt zwischen der Atommacht Russland und der NATO wird. "Dann werden wir noch mehr Leiden sehen, noch mehr Tote, noch mehr Zerstörung."
Der Ton ist gesetzt, die Doppelstrategie formuliert. "Die NATO hat von vornherein eine Strategie gefahren, bei der sie die Ukraine mit Waffen unterstützt, zugleich aber eine Position der Nicht-Krieg-Führung einnimmt", analysiert Tobias Debiel, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Duisburg-Essen. Seiner Einschätzung nach ist die Strategie weitgehend aufgegangen. Das Nein zur Flugverbotszone, die Zurückhaltung bei der Lieferung von Kampfflugzeugen, die inoffizielle Vorgabe für die Ukraine, nicht russisches Territorium anzugreifen - das alles sei wichtig, weil Russland das NATO-Engagement sonst als einen "unmittelbaren Eingriff in den Krieg wahrnehmen würde".
Keine Kampfpanzer westlicher Bauart
Dass die Interessen der NATO nicht in allen Punkten deckungsgleich mit den Interessen der Ukraine sind, zeigt sich auch beim Thema Panzerlieferungen. Dabei steht die Bundesregierung durchaus nicht allein mit ihrem Nein zur Lieferung von "Leopard 2"-Panzern. Im Gegenteil, kein NATO-Mitgliedsland zeigt sich bisher bereit, Kampfpanzer westlicher Bauart an die Ukraine zu liefern. London nicht, Paris nicht und auch Washington nicht.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskjy wurde vor Weihnachten zwar vom US-Präsidenten und auch im US-Kongress mit offenen Armen empfangen. Aber einiges von dem, was auf der Waffen-Wunschliste des Ukrainers ganz oben steht - moderne Panzer und Kampfflugzeuge zum Beispiel - wird auch von der Führungsnation der Allianz, dem mit Abstand größten Geberland für die Ukraine, nicht erfüllt.
Die Ukraine bekomme alle Unterstützung, die notwendig ist, versicherte US-Präsident Joe Biden. Aber was ist notwendig? Entschieden wird das von jedem Mitgliedsland in eigener Verantwortung. Die NATO tritt da nicht als Akteur in Erscheinung, das wird unablässig betont und auch, dass alles in Absprache mit Kiew geschehe.
NATO rüstet auf
Für das eigene Bündnisgebiet liegen die Dinge anders. Hier sind die Weichen auf höchster NATO-Ebene für ein massives Wachstum bei Aufrüstung und Ausrüstung gestellt. Die Zahl der schnellen Eingreifkräfte wird vervielfacht - von 40.000 auf mehr als 300.000 Soldaten. Massiv verstärkt werden auch die aktiven Kampfverbände im Osten der Allianz. Biden kündigte an, die US-Präsenz in Europa auf 100.000 Soldaten zu erhöhen - die Zahl ist historisch, gerade war noch die Rede davon, den Europäern den Rücken zukehren und sich in Richtung Pazifik zu orientieren. Auch das eine Zeitenwende, eine Wende zurück in die Zeit transatlantischer Verlässlichkeiten.
Der Westen will den Krieg aus der Ferne steuern, so soll ein Sieg Putins verhindert werden - darüber herrscht Konsens unter den Großen in der Allianz. Er habe die NATO noch nie so geschlossen erlebt, berichtete US-Außenminister Antony Blinken am Rande des Bündnis-Treffens in Bukarest und findet das selbst bemerkenswert, immerhin sei er "fast 30 Jahre dabei".
Abweichende Einschätzungen kommen in der NATO bisher vor allem von einigen osteuropäischen Regierungen - aus den baltischen Ländern und auch aus Polen. Hier wünscht man sich durchaus mehr westliches Engagement für die Ukraine, auch die Lieferung moderner Kampfpanzer, auch von Deutschland.
Sorgenvolle Blicke auf die Türkei
Noch brisanter für die oft beschworene Geschlossenheit der Allianz dürfte aber der Sonderkurs eines ganz anderen Mitglieds werden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterläuft systematisch die Sanktionen des Westens, er macht fragwürdige Geschäfte mit Putin und bleibt dabei seiner Rolle als Quertreiber der Allianz treu. "Erdogan hat immer wieder Alleingänge unternommen", erinnert Politikwissenschaftler Debiel, dazu gehöre auch der völkerrechtswidrige Angriff auf Syrien. Der türkische Präsident sei dabei immer an den Rand der politischen oder auch moralischen Erpressung gegangen. Viel zu unkritisch habe die NATO-Führung ihn gewähren lassen.
Seit Monaten verärgert Erdogan die Partner, weil er die Aufnahme Finnlands und Schwedens blockiert. Die Türkei kann das, weil neue Mitglieder nur in die Allianz kommen, wenn alle zustimmen. Da zeigen sie sich dann doch die tieferen Risse in der Geschlossenheit des Bündnisses - ausgerechnet jetzt, heißt es unter NATO-Diplomaten, wo es darauf ankomme, dass niemand ausschert aus der Allianz gegen Moskau.