Frauen auf einem Straßenstrich in Kiew.
reportage

Sexarbeit in der Ukraine Soldaten, Straßenstrich und der Krieg

Stand: 20.07.2024 15:49 Uhr

Prostitution ist in der Ukraine verboten. Doch im Krieg hat Sexarbeit deutlich zugenommen - mit Strafen müssen aber alleine die Frauen rechnen. Experten werfen der Polizei vor, am System mitzuverdienen.

Von Andrea Beer, ARD Kiew und Mariia Kalus, ARD Kiew

Viele verlassene, teils zerstörte Häuser säumen die Straßen von Kramatorsk in der östlichen Region Donezk. Rund 230.000 Menschen lebten hier bis zum russischen Großangriff - nun sind es laut Stadtverwaltung noch 160.000. Soldaten bestimmen das Straßenbild, und auch Oleksii trägt die Uniform der ukrainischen Armee.

Der 43-Jährige heißt anders, will seinen Namen aber nicht öffentlich nennen. In Kramatorsk stationiert, wird er regelmäßig an die Front geschickt. Dort sei gerade eine ganze Einheit getötet worden, 20 Männer in nur einer Nacht - "und es ist nicht das erste Mal, dass uns das passiert".

Nach einem Fronteinsatz müsse man Stress abbauen und das ginge am besten mit Sex, sagt Oleksii. Viele Soldaten würden zu Prostituierten gehen, und in der Kaserne würden Kondome verteilt.  

Ein Gesetz und die Wirklichkeit

Prostitution beziehungsweise Sexarbeit, Zuhälterei und Bordelle zu betreiben, ist in der Ukraine gesetzlich verboten. Doch für umgerechnet knapp 70 Euro bekomme man in Kramatorsk alles, meint Oleksii.

Er zückt sein Handy und zeigt entsprechende Apps und Anzeigen von Saunen und Klubs. "Keine Vorauszahlung, zusätzliche Dienstleistungen. Alles möglich von einer Stunde bis die ganze Nacht. Telegramm, Viber, Whatsapp", ist da zu lesen.

Betroffen vor allem: junge Binnenvertriebene

Seit dem Beginn der russischen Großinvasion gebe es mehr Mädchen und Frauen, die sich prostituieren, konstatiert die Kiewer Anthropologin Dafna Rachok, die den Einfluss des Kriegs auf Sexarbeit in der Ukraine wissenschaftlich untersucht.

Aktuelle Zahlen gebe es nicht, aber sie sei sich sicher, dass einer der Gründe schwache soziale staatliche Unterstützung bei Armut ist. Betroffen seien oft junge Mädchen oder alleinerziehende Mütter mit dem Status von Binnenvertriebenen, die häufig wenig Geld haben.  

Frau auf einem Straßenstrich in Kiew.

Die Frauen auf diesem Kiewer Straßenstrich wissen nicht, zu wem sie ins Auto steigen und wie sie behandelt werden. Von der Polizei erwarten sie keine Hilfe.

Schutzlos gegen Misshandlungen

Prostitution findet ganz offen statt. Sei es in Klubs in Kramatorsk, sei es an einer mehrspurigen Straße in Kiew, wo alle paar hundert Meter Frauen stehen. Wegen der Sperrstunde würden sie weniger als früher verdienen, sagt Olha, die auf Kundschaft wartet. Jetzt kämen viele Soldaten, die oft betrunken seien, ergänzt Alla, die 2014 aus Luhansk geflohen ist, als Russland den Krieg gegen die Ukraine begann.  

Gegen Misshandlungen könne man sich nicht wehren, konstatiert Tetyana, die ebenfalls am Straßenrand steht. Dazu müsse sie sich schon selbst anzeigen, weil sie Sexdienstleistungen erbracht habe, sagt sie und fragt, wie das denn gehen solle.  

Alla

Bei vielen Freiern handele es sich um betrunkene Soldaten, berichtet Alla.

NGO fordert Legalisierung von Sexarbeit

Natalja Issajewa hat Legalife Ukraine gegründet, eine regierungsunabhängige Organisation mit Anlaufstellen in 16 Städten, die sich für die Legalisierung von Sexarbeit in der Ukraine einsetzt. Frauen leben von Teilzeitjobs und Sexarbeit. Im Büro der Organisation in Kiew treffen sich Sexarbeiterinnen. Viele kombinieren das mit Putz- oder Renovierungsjobs.

Aus Sicht von Issajewa wären Frauen besser geschützt, wenn Sexarbeit in der Ukraine legal und damit entkriminalisiert würde. Derzeit würden Kunden nicht belangt und nur die an Sex-Dienstleistungen beteiligten Frauen bestraft.

Die Polizei belege sie mit einer Geldstrafe und die entsprechenden Daten würden registriert. Die Folge laut Issajewa: Habe ein Kunde eine Frau misshandelt, könne sie ihn nicht anzeigen, da sie wegen Prostitution polizeibekannt sei. Issajewa schätzt, dass es in der Ukraine 80.000 Prostituierte gibt - männliche Sexarbeiter nicht eingerechnet.   

Natalja Issajewa

Natalja Issajewa kämpft mit ihrer Organisation für die Rechte und für mehr Schutz von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern.

Massive Vorwürfe gegenüber der Polizei

Ob auf dem Straßenstrich oder in einer Wohnung - überall müssten Polizisten bestochen werden, so der Vorwurf von Issajewa. Alle Frauen, mit denen man redet, bestätigen das mehr oder weniger offen. Wenn man nicht ins Gefängnis wolle, dann müsse man Polizisten bestechen. Deshalb sei die Polizei auch eher gegen die Entkriminalisierung. 

Der Staat sei der größte Zuhälter, findet Issajewa. Die Wissenschaftlerin Dafna Rachok hält diese Aussage für logisch - schließlich vertrete die Polizei den Staat. 

Trotz mehrfacher Anfragen des ARD-Studios Kiew gab die Nationale Polizei in Kiew zu den Vorwürfen der Bestechlichkeit durch Sexarbeiterinnen keine Stellungnahme ab.

"Soldaten haben kein Gewissen"

Die Frauen in dem Büro in Kiew sind sich einig: Seit dem russischen Großangriff seien die Männer aggressiver geworden. Soldaten würden oft weinen, über den Krieg reden und trinken. "Die Soldaten sind moralisch und körperlich verkrüppelt", urteilt eine von ihnen.  

Oleksii in Kramatorsk wird wohl weiter in Bordelle gehen. Gegenüber seiner Ehefrau habe er kein schlechtes Gewissen. "Glauben Sie, ich habe ein gutes Gewissen, wenn ich hier Menschen töte? Denn das tue ich, ich töte Menschen."

Sein Gewissen benutze er nicht, sagt Oleksii, und sein Lachen klingt hohl. "Welcher Soldat hat denn ein Gewissen?" Er lebe in der Gegenwart. "An die Zukunft denken wir nach dem Krieg."