NATO-Gipfel Gemischte Reaktionen in der Ukraine
Der NATO-Gipfel hat der Ukraine wichtige Zusagen eingebracht. Doch für einen Beitritt gibt es weiter keinen Fahrplan. Das Zögern könnte für den Westen selbst zum Problem werden, warnt ein Experte.
"Auf die NATO", sagt US-Präsident Joe Biden beim Jubiläumsgipfel in Washington und erhebt das Glas auf die Mitglieder im Militärbündnis, die gemeinsame Werte teilen würden - wie Gleichheit, Demokratie und Freiheit. Werte, die die Ukraine im russischen Angriffskrieg auch für westliche Partner verteidigt, so sehen es viele Menschen im Land. Laut Umfragen möchte die große Mehrheit der Ukrainer einen NATO-Beitritt.
Doch das dies bald geschieht, glauben wohl die wenigsten. "Niemals", sagt ein junger Mann aus Kiew. Niemand werde die Ukraine in den nächsten 20 Jahren aufnehmen. Das seien nur schöne Worte, meint er.
Eine andere Passantin sagt, sie sei sehr beunruhigt. Sie wundere sich über die Gelassenheit von Europa und Amerika. "Ja, sie helfen uns. Aber dass im 21. Jahrhundert mitten in Europa Menschen getötet werden, kann ich nicht verstehen."
Ein Zeitplan für den NATO-Beitritt fehlt
Wie erwartet, erhielt die Ukraine keine offizielle Einladung und auch ein konkreter Zeitplan fehlt. Die Abschlusserklärung nennt den NATO-Beitritt jedoch unumkehrbar - und das sei ein wichtiger Schritt, gegen den sich die USA gesträubt hätten, konstatiert Oleksandr Krajew. Er ist Direktor des Nordamerika-Programms am ukrainischen Prism Analytical Center des Foreign Policy Council in Kiew.
"Wir haben das Problem, dass es keine klaren Bedingungen gibt, wie und unter welchen Umständen das geschehen soll. Es gibt eine Reihe von Kriterien, Reformen und Anforderungen, die die Ukraine machen und erfüllen muss, damit sie als NATO-Mitglied akzeptiert wird."
Dies bedeute, dass der russische Angriffskrieg entweder durch einen Sieg der Ukraine beendet werden müsse oder dass Russland selbst aufhören muss. "Dann kann das Gespräch über den vollständigen Beitritt der Ukraine zur NATO beginnen", sagt Krajew.
Bilaterale Abkommen ersetzen keine NATO-Mitgliedschaft
Bis dahin setzt die Ukraine unter anderem auf bislang mehr als 20 bilaterale Sicherheitsabkommen, in denen Kiew langjährige militärische, finanzielle und politische Unterstützung zugesagt wird: beispielsweise für die Armee, den Ausbau der Rüstungsindustrie oder mehr Flugabwehr.
Die bilaterale Abkommen seien wichtig, betont NATO-Experte Krajew, dürften aber nicht verwechselt werden mit echten Sicherheitsgarantien. Einen NATO-Beitritt könnten sie keinesfalls ersetzen.
In Washington wurden der Ukraine weitere Milliardenhilfen und fünf Patriot-Flugabwehr-Systeme zugesagt. Außerdem wurde ein neues NATO-Kommando mit 700 Mitarbeitenden beschlossen. Es soll von Wiesbaden aus die meisten Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten künftig koordinieren.
Außenminister Dmytro Kuleba lobte die allgemeine Atmosphäre in Washington und die neuen Mechanismen zu Unterstützung der Ukraine und die Zusagen, moderne F16-Kampfjets zu liefern.
Russland reagiert auf erwartete Lieferung von Kampfjets
Die Ukraine und nicht Russland werde den Krieg gewinnen, sagte US-Präsident Joe Biden zum Abschluss in Washington vor Journalisten. Er stellte Präsident Wolodymyr Selenskyj versehentlich als Putin vor, verbesserte das aber schnell. "Ich bin besser als der", reagierte Selenskyj und bedankte sich für die Unterstützung. Er forderte erneut, westliche Waffen ohne Auflagen auf dem Gebiet Russlands einsetzen zu dürfen. Es gehe dabei vor allem um Militärstützpunkte im russischen Hinterland, von wo aus Raketenangriffe ausgingen.
Russland reagiert offenbar bereits auf die angekündigten F16-Lieferungen. Seit Juni greift der Kreml systematisch Militärflugplätze in der Ukraine an, insbesondere in den Regionen Poltawa Chmelnyzkyj und Kiew. Der britische Geheimdienst bringt diese russischen Angriffe in Verbindung mit der erwarteten Lieferung moderner Kampfflugzeuge.
Experte: Optimaler Zeitpunkt für NATO-Beitritt verpasst
Für die Front und für den Schutz von Menschen, Häfen oder Kraftwerken ist mehr Flugabwehr ein wichtiger Baustein, um die russischen Angreifer zurückzudrängen. Nach einem Kriegsende sollte es schnell einen NATO-Beitritt geben, sagt der Bündnis-Experte Krajew.
"Sonst wird die Aggression weitergehen und der ist Westen nicht in Sicherheit. Oder die NATO wird diesen neuen Kalten Krieg verlieren", sagt er. "Eine zurückhaltende, in mancher Hinsicht sogar passive Haltung würde verhindern, dass der Westen auch weiterhin eine Führerschaft übernimmt."
Der optimale Zeitpunkt für den NATO-Beitritt sei allerdings bereits verpasst worden, konstatiert Krajew nüchtern: nämlich vor der russischen Vollinvasion.