Ministertreffen in Brüssel EU streitet über Flüchtlingsverteilung
Jean-Claude Juncker hat einen Plan, wie die Verteilung der Flüchtlinge in Europa konkret funktionieren könnte. Am Nachmittag beraten die Staaten darüber in Brüssel. Einige Länder sträuben sich - doch der Kommissionspräsident macht Druck.
"Keine Polemik, keine Rhetorik - Handeln tut Not." Die Brandrede von EU-Kommissionspräsident Juncker zur Lage der Union dürfte den Ministern noch in den Ohren klingen. Besonders sein Appell, beim Thema Flüchtlinge mit den Schuldzuweisungen aufzuhören und sich endlich solidarisch zu zeigen: "Mitgliedsstaaten haben einander angeklagt, nicht genug zu tun oder das Falsche. Noch öfter haben sie mit dem Finger auf Brüssel gezeigt. Immer wird Brüssel die Schuld gegeben, wenn Mitgliedsländer versagen", so Juncker.
Dass er sich derart unverblümt über das Schwarzer-Peter-Spiel beklagt, kommt nicht von ungefähr. Auch ihm hatte man vorgeworfen, zu zögerlich auf den Notstand zu reagieren. Dabei hatte die EU-Kommission bereits im Mai nach den tragischen Schiffsunglücken im Mittelmeer ein Konzept zur Verteilung von 40.000 Flüchtlingen vorgelegt. Kernelement: eine verbindliche Quote, die Größe und Leistungsfähigkeit eines Aufnahmelandes berücksichtigt.
- Notumsiedlung von weiteren 120.000 Flüchtlingen in den kommenden zwei Jahren
- Vor allem Menschen aus Syrien, Eritrea und dem Irak mit Chancen auf Asyl
- Umsiedlung soll Italien, Griechenland und Ungarn entlasten, wo besonders viele ankommen
- Deutschland müsste laut Schlüssel 31.443 Flüchtlinge übernehmen
- Quote richtet sich nach Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft, Arbeitslosenquote, bereits aufgenommenen Asylbewerbern
- gemeinsame Liste sicherer Herkunftsstaaten soll Abschiebung von Migranten ohne Asyl-Anspruch erleichtern
"Hoffe wirklich, dass alle an Bord sein werden"
Der Vorschlag war damals am Widerstand der Briten, Balten und Osteuropäer gescheitert. Jetzt hat Juncker seinen Plan um 120.000 Schutzbedürftige aufgestockt und einige Punkte ergänzt. Nicht nur Griechenland und Italien sollen entlastet werden, sondern auch das quotenkritische Ungarn: "Ich rufe die Mitgliedsstaaten auf, die Kommissionsvorschläge für den Notfallmechanismus anzunehmen. Und ich hoffe wirklich, dass diesmal alle an Bord sein werden", betont Juncker.
Obwohl sich die sogenannten Višegrád-Länder, darunter Ungarn, Tschechien und die Slowakei, weiter gegen Pflichtquoten sträuben - die Chancen, dass auf dem heutigen Ministerrat im zweiten Anlauf eine europäische Antwort auf die Krise gefunden wird, stehen gar nicht so schlecht. Das Bild des toten Jungen am Strand von Bodrum, die desolaten Zustände am Bahnhof von Budapest, aber auch die deutsche Willkommenskultur hätten einen Meinungsumschwung bewirkt, berichten EU-Diplomaten.
"Wir brauchen Tempo!"
In vielen Fragen sei man sich einig: etwa, dass die Balkanstaaten künftig als sichere Herkunftsländer gelten sollen, in die man Asylsuchende leichter zurückschicken kann. Auch das Konzept von gemeinsamen Aufnahmezentren, sogenannten "Hotspots“, werde allgemein begrüßt: "Wir brauchen Tempo! Nicht nur gute Vorschläge, sondern die Umsetzung der Vorschläge. Dazu gehört dann auch die europäische Verteilung", sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Zusammen mit seinen Kollegen aus Frankreich, Österreich und Schweden wird de Maizière auf dem Sondertreffen Druck machen und erneut für die Idee einer gerechteren Verteilung werben. Auch Spanien steht inzwischen hinter dem Juncker-Plan.
Polen an eigene Vergangenheit erinnert
Die britische Regierung, die einen Sonderstatus genießt, will zumindest mehr syrische Kriegsopfer aus Lagern im Nahen Osten aufnehmen. Sogar Polens Regierungschefin Ewa Kopacz, die mitten im Wahlkampf steht, gibt sich kompromissbereit: "Lasst uns nachgiebig sein. Kommissionspräsident Juncker hat uns daran erinnert, dass wir Polen auch einmal Flüchtlinge waren."
Mit Zugeständnissen. So kann ein Staat vorübergehend bei der Umverteilung aussteigen, wenn er berechtigte Gründe hat (Naturkatastrophe, plötzlicher Zustrom von Flüchtlingen, ...). Migranten wegen ihrer Religion abzulehnen, geht demnach nicht. Polen und Balten müssen keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen, käme es zu einem Exodus aus der Ostukraine. Wer die Klausel in Anspruch nimmt, muss dafür in einen Flüchtlingsfonds einzahlen (bis zu 0,002 Prozent der Wirtschaftsleistung).
Überzeugen könnte die Gegner eine Hintertür im Juncker-Plan: So könnten sich Länder, die sich momentan nicht in der Lage sehen, ihr Kontingent zu erfüllen, eine Zeitlang freikaufen, indem sie in einen Ausgleichsfonds einzahlen. Notfalls würde im Rat auch eine qualifizierte Mehrheit der EU-Mitglieder genügen, um die Vorschläge abzusegnen. In Diplomatenkreisen wünscht man sich eine politische Verständigung über zentrale Elemente des Pakets, sprich: so viel Gemeinsamkeit wie möglich im Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Noch sei man nicht am Ziel, räumt ein Kommissionssprecher ein. Aber es gebe Bewegung - man werde sehen, was passiert.