Erwartete Offensive auf Gaza "Eine der kompliziertesten Operationen überhaupt"
Eine Vernichtung der Hamas in Gaza wird Israel nur unter schwierigsten Bedingungen erreichen können, erklärt Militärexperte Masala. Was nach einer Bodenoffensive geschehen könnte - und warum ihre Verzögerung ein Nachteil für Israel ist.
tagesschau.de: Zuletzt hatte die israelische Armee gemeldet, sie habe ein neues Vordringen der Hamas auf israelisches Territorium verhindert. Heute Morgen teilten Chefs der Hisbollah mit, man habe Treffen mit der Hamas und der Terrororganisation "Islamischer Dschihad" abgehalten, um sich über das Vorgehen in Gaza abzustimmen.
Unterdessen warten internationale Beobachter auf eine Bodenoffensive der israelischen Armee auf den Gazastreifen, die noch immer nicht begonnen hat. Spielt in gewisser Weise diese Verzögerung der Bodenoffensive der Hamas in die Hände?
Carlo Masala: Ja, in gewisser Weise spielt sie ihr in die Hände. Wir sehen ja, dass der internationale Druck auf Israel steigt, diese Bodenoffensive vielleicht doch nicht durchzuführen. Das ist das eine. Das andere ist: Es gibt der Hamas natürlich die Gelegenheit, sich noch besser vorzubereiten.
Auf der anderen Seite muss man aber sagen, dass die Bodenoffensive sich auch deshalb verzögert, weil Israel weiterhin an einem politischen Plan für den Tag danach arbeitet, also für die Zeit, nachdem das Ziel der Zerstörung der Hamas erreicht ist - und gleichzeitig die US-Amerikaner gerade darum bemüht sind, noch mehr Truppen und Material in die Gegend zu bringen, da sie eine Eskalation dieses Konfliktes befürchten, der auch amerikanische Militärs und amerikanische Staatsbürger in dieser Region einer Gefahr aussetzt. Es ist eine komplizierte Lage.
Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik und Direktor des Instituts für Strategie und Vorausschau (Metis) an der Universität der Bundeswehr in München.
tagesschau.de: Gerade Israel hat mehrere militärische Ziele und auch politische Ziele einer Bodenoffensive benannt, unter anderem eine Befreiung der wahrscheinlich 220 Geiseln, die sich noch immer in der Gewalt der Hamas befinden.
Zudem das Ziel, die Hamas zu zerstören und auch militärisch nicht mehr schlagfähig zu machen - und damit Israel dauerhaft sicher zu machen, sodass aus dem Gazastreifen keine weiteren Terrorangriffe auf Israel erfolgen können. Sind diese Ziele militärisch durch eine Bodenoffensive auf Gaza überhaupt zu erreichen?
Masala: Teile dieser Ziele sind militärisch zu erreichen. Die Israelis können natürlich die Hamas als militärischen Akteur aus dem Spiel nehmen. Das heißt nicht, dass die Hamas nicht mehr existiert, aber dass sie letzten Endes nicht mehr die Fähigkeiten hat, Israel zu bedrohen. Sie können die Hamas als politischen Akteur aus dem Gazastreifen vertreiben.
Und solange die Bodenoffensive nicht vollumfänglich stattfindet, gibt es natürlich die Möglichkeit für Spezialkräfte, den Versuch zu unternehmen, in Gaza selbst Geiseln zu befreien. Das Problem ist allerdings: Sie brauchen einen politischen Plan für den Tag danach. Ansonsten helfen diese militärischen Ziele und diese politischen Ziele, wenn sie erreicht worden sind, nicht viel weiter.
"Israel muss die Proportionalität wahren"
tagesschau.de: Blicken wir auf die Gegebenheiten in Gaza. Es ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Es gibt große, hohe Häuser, viele Wohnungen, viele Tunnelsysteme, in denen sich militante Terroristen verschanzen können. Vor welchen militärischen Schwierigkeiten steht Israel in dieser Gegend? Und was kann Israel tun, um das Leben der Geiseln und nicht zuletzt der Zivilisten, die dort leben, zu schützen?
Masala: Also wenn Israel diese Bodenoffensive durchführen sollte - und momentan sieht es ja so aus, als ob sie sich nur auf den Norden von Gaza beschränkt, denn man hat die Bevölkerung aufgerufen, in den Süden zu gehen -, dann kämpft Israel in einem Umfeld, in dem die Gefahr letzten Endes von oben, von unten, von vorne und von hinten droht. Also das ist eine der kompliziertesten militärischen Operationen, die sie überhaupt durchführen können. Das ist Häuserkampf.
Solange da noch weiterhin Zivilisten sind, wird es sich nicht vermeiden lassen, dass auch Zivilisten dabei ums Leben kommen. Das, was Israel machen muss, ist, letzten Endes eine Proportionalität zu wahren. Es ist ja nicht so, dass es grundsätzlich illegal ist, dass Zivilisten bei militärischen Konflikten ums Leben kommen. Sie dürfen nur nicht Ziel militärischer Aktionen sein.
Jetzt wissen wir aber - und das ist das Problem, dass sich den israelischen Streitkräften jetzt schon stellt und stellen wird -, dass die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde gebraucht und gleichzeitig ihre militärischen Installationen in zivilen Gebäuden versteckt. Das stellt natürlich die israelischen Streitkräfte vor ein Problem: Ist es ein militärisch wichtiges Ziel, dass man angreift - sodass man dabei auch in Kauf nimmt, dass Zivilisten ums Leben kommen? Oder ist es ein militärisch eher belangloses Ziel? Dann sollte man von solchen Schlägen Abstand nehmen.
Also ein sehr, sehr komplexes operatives Umfeld. Und wenn diese Bodenoffensive beginnt, wird es sehr, sehr schwierig, die Geiseln zu befreien, weil die Hamas angekündigt hat, dann diese Geiseln zu töten und diese Tötungsaktion dann auch ins Internet zu stellen, damit sie die ganze Welt sehen kann.
tagesschau.de: Welche möglichen Alternativen haben die israelischen Streitkräfte zu einer Bodenoffensive und zu einem Häuserkampf mit seinen Schwierigkeiten?
Masala: Wenn es ihr politisches Ziel ist, die Hamas militärisch und politisch zu zerstören, dann gibt es letzten Endes keine Alternative dazu. Was Israel jetzt macht, ist aus der Luft und mit Raketen Hamas-Ziele zu bombardieren und zu versuchen, Hamas-Anführer zu liquidieren.
Wir wissen, dass diese Liquidierungsstrategien nicht erfolgreich sind, wenn man sich allein darauf beschränkt, weil immer wieder Menschen in diese führenden Positionen nachrücken werden. Und wenn die Israelis aus der Luft Teilziele angreifen, dann haben sie genau das Problem, dass sie sich nur schwer auf Hamas-Stellungen konzentrieren können. Das ist ein größeres Risiko, auch für die Zivilisten im Gazastreifen.
Von daher gibt es, wenn Israel das politische Ziel verfolgt, Hamas als militärischen und politischen Akteur zu zerstören, eigentlich keine Alternative zu einer wie auch immer gearteten Bodenoffensive. Diese muss nicht massiv erfolgen, sie kann in Wellen erfolgen, sie kann in kleineren Schritten erfolgen. Aber um das Ziel zu erreichen, das die israelische Regierung ausgegeben hat, dann kommen die Streitkräfte um die Bodenoffensive nicht herum.
"Für Zukunft Gazas gibt es keinen Plan"
tagesschau.de: Wie kann dann die Zukunft des Gazastreifens aussehen? Was kann Israel machen?
Masala: Das ist genau die offene Frage. Und dafür gibt es keinen Plan. Es gibt eine Aussage des israelischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, dass Israel nicht vorhat, den Gazastreifen erneut zu besetzen, wie es ja der Fall war bis 2005. Das wäre auch die schlechteste aller Lösungen, weil sie den Terrorismus nur erneut befeuern würde.
Es gibt die Aussage des Außenministers, dass man eine Pufferzone zwischen Israel und dem Gazastreifen einrichten könnte. Aber das ist eine einzelne Aussage.
Ansonsten gibt es dazu bisher keine öffentlichen Aussagen - und es ist auch relativ schwierig, weil sich die Frage stellt: Was machen die Israelis mit Gaza? Lassen sie die Fatah, also die andere palästinensische Großorganisation, nach Gaza rein, um das Gebiet zu administrieren, zu kontrollieren? Stellen sie Gaza unter internationale Verwaltung, also zum Beispiel der Vereinten Nationen? Es ist überhaupt nicht klar, was mit Gaza nach diesem Tag passieren soll, an dem die Israelis erklärt haben, dass sie ihre politischen und militärischen Ziele erreicht haben.
tagesschau.de: Inwieweit ist damit zu rechnen, dass sich auch nach einem möglichen Ende der Hamas weitere terroristische Strukturen herausbilden könnten?
Masala: Das ist natürlich eine große diplomatische Aufgabe der internationalen Gemeinschaft - und es hängt sehr stark davon ab, was eigentlich danach passieren wird.
Wird man nach dem Ende der Hamas als politischer und militärischer Akteur in einen umfassenden Prozess zu einer wie auch immer gearteten Zwei-Staaten-Lösung einsteigen? Wird man dafür sorgen, dass die Finanzierungsquellen der Hamas ausgetrocknet werden, dass es nicht mehr möglich ist, die Hamas mit Waffen zu versorgen von außen?
Das sind alles Fragen, die sich stellen, die man angehen muss, um zu vermeiden, dass letzten Endes die Hamas oder eine irgendwie geartete Nachfolgeorganisation sich gründen kann und eine erneute Gefahr für die Sicherheit Israels darstellt.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de