Palästinenser stehen an einer Essenausgabe in Rafah im Gazastreifen

Humanitäre Lage im Gazastreifen Wenn Helfen kaum noch möglich ist

Stand: 24.10.2023 17:53 Uhr

Erste Hilfskonvois rollen von Ägypten aus in den Gazastreifen. Doch Hilfe vor Ort zu leisten, ist extrem schwierig - und gefährlich. Das DRK fordert einen zweiten sicheren Korridor.

Von Katharina Puche, tagesschau.de

Nach tagelangem Ringen und Warten haben inzwischen 54 Lastwagen den Grenzübergang in Rafah überquert. An Bord: dringend benötigte Hilfsgüter für die Menschen im Gazastreifen. Doch das ist nur ein Bruchteil von dem, was vor dem Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel in den Gazastreifen geliefert wurde - laut Vereinten Nationen waren es 500 Lkw am Tag.

Auch die Hilfsorganisation Save the Children spricht von einem Tropfen auf dem heißen Stein. "Ohne massive Hilfe von außen und ohne Feuerpause, wird es nicht möglich sein, den Menschen im Gazastreifen so zu helfen, wie sie es brauchen", sagt Geschäftsführer Florian Westphal im Gespräch mit tagesschau.de.

Schon vor den Angriffen der Hamas-Terroristen auf Israel und den Gegenschlägen der israelischen Armee war die humanitäre Lage im Gazastreifen schlecht. Jetzt sei sie katastrophal, die Vorräte gingen zu Ende, sagt Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, im Gespräch mit tagesschau.de. "Es fehlt eigentlich an allem: an Medikamenten, an Trinkwasser, an Lebensmitteln, an warmen Decken und an Kleidung."

Israel fürchtet, dass die Hamas an die Hilfsgüter kommt

Auch in den Kliniken verschärft sich die Lage. "Vor Ort müssen teilweise Operationen ohne Schmerzmittel durchgeführt werden. Das ist unvorstellbar", so Katzer. Bilder der Nachrichtenagenturen zeigen Patienten, die aus Platzmangel auf den Gängen liegen. Auch der Treibstoff wird knapp. Aus Sorge, dieser könnte in die Hände der Hamas fallen, verbietet Israel die Einfuhr. Doch Sprit für Generatoren ist essenziell für den Betrieb der Krankenhäuser, aber auch für die Ambulanzfahrzeuge.

Verwundete Palästinenser warten auf einem Krankenhausboden in Gaza-Stadt auf eine Behandlung.

Verwundete Palästinenser warten auf einem Krankenhausboden in Gaza-Stadt auf eine Behandlung.

Um zu verhindern, dass die Hilfsgüter - wie von Israel befürchtet - in die Hände der islamistischen Terroristen geraten, haben die Hilfsorganisationen nach eigenen Angaben Kontrollsysteme. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) etwa arbeitet eng mit dem Palästinensischen Roten Halbmond zusammen. Wurden früher Hilfsgüter auch vor Ort eingekauft, so sei das derzeit nicht möglich, sagt Christof Johnen, Leiter der internationalen Zusammenarbeit beim DRK, im Gespräch mit tagesschau.de. Lieferanten und Vertragspartner würden kontrolliert.

Aber, erklärt Johnen, "wir machen keine Überprüfung von Endempfängern. Wir schauen uns nicht an, steht das Kind, die Frau, der Mann, die ein Lebensmittelpaket bekommen, in Verbindung mit einer Konfliktpartei?". Dies geschehe in Einklang mit den EU-Sanktionsverordnungen. Es würde auch dem humanitären Grundsatz der Unparteilichkeit widersprechen, der Hilfe nach dem Maß der Not, so Johnen.

"Der Ausbruch einer Epidemie wäre verheerend"

Mehr als eine Million Menschen sind innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Viele folgten der Aufforderung Israels, vom Norden in den Süden zu fliehen - der schon zuvor dicht bevölkert war. Die Sorge vor einem Ausbruch von Krankheiten ist groß. "Da gibt es kein Wasser, keine Toiletten, die Abwasserversorgung funktioniert nicht mehr gut", sagt Katzer. Wenn bei der Menge an eng zusammenlebenden Menschen eine Epidemie ausbräche, wäre das verheerend. Wir könnten nicht genug Mitarbeitende zusammenziehen, um darauf zu reagieren, und es gibt definitiv nicht genug Material."

Die Mitarbeiter vor Ort sind selbst vom Konflikt betroffen

Die Hilfsangebote mussten massiv heruntergefahren werden - auch für Kinder. Schutz- und Spielräume, in denen sie über die erlebten Traumata sprechen können, in Sicherheit malen und spielen können, Abstand zur Realität gewinnen können, gibt es aktuell nicht.

Viele Helferinnen und Helfer vor Ort mussten selbst ihre Häuser verlassen, haben Angehörige verloren, einige kamen ums Leben. Vier Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmonds sind nach Angaben der Organisation seit dem 7. Oktober durch die Kampfhandlungen gestorben - bei Einsätzen mit Rettungswagen.

DRK fordert sicheren Korridor vom Westjordanland

Eine Sicherheitsgarantie gibt es derzeit nicht - weder für Helfer noch für den Transport von Hilfsgütern. Hilfsorganisationen fordern daher eine Pause der Kämpfe und einen uneingeschränkten und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe. "Es geht ja auch darum, Reparaturen durchzuführen an der Infrastruktur." Auch die Trinkwasserversorgung müsse in Stand gesetzt und die Krankenhäuser versorgt werden, sagt Westphal. Doch eine Feuerpause ist umstritten, auch Deutschland reagiert zurückhaltend.

"Unser Bestreben ist es, dass es zwei solcher sicheren Passagen gibt", sagt Johnen vom DRK. "Das wäre einmal von Ägypten aus über Rafah, und die zweite wäre vom Westjordanland durch Israel an die Ostgrenze des Gazastreifens. Ob das gelingen wird, ist unklar. Klar ist: Es muss ein regelmäßiger Fluss von Hilfsgütern und auch Hilfskräften in den Gazastreifen ermöglicht werden", so Johnen.

IKRK verhandelt auch mit der Hamas

Um einen sicheren Korridor zu ermöglichen, verhandeln Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), der Palästinensische Rote Halbmond und die UN mit allen Beteiligten - auch mit der Terrororganisation Hamas. "Zwei Millionen Menschen kämpfen bald ums Überleben. Es ist das völkerrechtliche Mandat des IKRK, mit allen Konfliktparteien zu sprechen. Nur so können wir Menschen nach dem Maß der Not helfen", sagt Johnen.

Das betont auch Ärzte ohne Grenzen. Im Krankenhaus gilt: Wer verwundet ist, wird versorgt. "Für uns ist jemand ein Patient, solange er oder sie unbewaffnet ist. Die medizinische Ethik schreibt vor, dass Menschen, die eine medizinische Versorgung brauchen, sie auch bekommen", so Katzer. Sobald Kombattanten ihre Waffe abgeben, seien sie laut humanitärem Völkerrecht keine Kombattanten mehr und könnten medizinische Hilfe erhalten.

Daraus ergebe sich für die Organisation auch eine Verhandlungsmöglichkeit mit den Kriegsparteien: eine medizinische Versorgung im Gegenzug zu Garantien, arbeiten zu können. Die seien im Moment aber nicht gegeben, so Katzer.

Sorge vor Ausweitung des Konflikts

Ein Ende der Kämpfe im Gazastreifen ist nicht absehbar, die Hilfe vor Ort dürfte schwierig bleiben. "Selbst wenn die Kampfhandlungen jetzt aufhören, das ist ein zerstörtes Gebiet mit zerstörter Infrastruktur. Die humanitären Bedarfe werden groß bleiben. Wir hoffen, dass sich die Situation nicht noch ausweitet", sagt Johnen vom DRK.

Die Hilfsorganisationen wappnen sich, sollte es in den Nachbarländern zu einer Zunahme der Gewalt kommen. "Wir besorgen Hilfsgüter, prüfen, ob genug Personal vor Ort ist", sagt Westphal von Save the Children. "Wir hoffen, dass das nicht passiert, aber man muss auf das Schlimmste vorbereitet sein."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 23. Oktober 2023 um 22:15 Uhr.