Ansprache zur "Lage der Union" Gelingt Juncker die "Ruck-Rede" für die EU?
Bei seiner ersten Rede zur "Lage der Union" vor einem Jahr zeichnete EU-Kommissionspräsident Juncker ein düsteres Bild. Seitdem sind die Herausforderungen noch gewachsen. Die Erwartungen an die Rede sind dementsprechend hoch.
Um Worte ist Jean-Claude Juncker selten verlegen. Doch das zurückliegende Krisenjahr hat sogar einen eloquenten und sturmerprobten Politprofi wie ihn zeitweise sprachlos gemacht. Nach der mit Ach und Krach verhinderten Staatspleite Griechenlands im Sommer 2015 spitzte sich im Herbst das Flüchtlingsdrama zu. Die anschließende Suche nach einer gemeinsamen europäischen Antwort verlief mühsam und weitgehend erfolglos.
Vergangenen Juni dann der traurige Höhepunkt: das Austrittsvotum Großbritanniens. Die provokante Journalisten-Frage, ob der Brexit für die EU der Anfang vom Ende sei, hat der Luxemburger inzwischen mehrmals tapfer verneint. Auch, dass seine Kommission den Ausgang des Referendums mitverschuldet habe.
Düstere Analyse bereits 2015
In seiner Rede zur "Lage der Union" wird Juncker seinen Standpunkt ausführlicher begründen müssen. Und er wird dabei nicht umhinkönnen, den desolaten Zustand anzusprechen, in dem sich die Gemeinschaft nach einer langen Reihe von Tiefschlägen befindet. Viel düsterer als 2015 kann seine Analyse freilich kaum ausfallen. "Unsere Europäische Union befindet sich in keinem guten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union", sagte er damals.
Wunsch nach einer "Ruck-Rede"
Ob Juncker auch diesmal wieder den Applaus der Mehrheit ernten kann, hängt nicht nur davon ab, wie schonungslos und selbstkritisch er Fehlleistungen und Mängel benennt. Vor allem im eigenen, dem konservativen Lager wird erwartet, dass er Worte findet, die den besorgten Bürgern wieder Vertrauen in das Projekt Europa einflößen und die auseinanderdriftenden Mitgliedsstaaten enger zusammenführen.
Herbert Reul, Chef der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, wünscht sich eine "Ruck-Rede", die in die Zukunft weist. Eine pragmatische Rede, die sich weder im bürokratischen Kleinklein verliert, noch weltfremde Visionen entwirft, sondern Lösungsvorschläge für ganz reale Probleme. "Ich bin relativ sicher, dass man mit dem Thema Innere und Äußere Sicherheit in Europa Menschen gewinnen kann, weil jeder versteht, dass das ein einzelner Staat alleine nicht kann und jeder weiß, da gibt es eine Riesenbedrohung", sagt Reul. "Das zweite Thema könnte Wachstum sein, weil nicht nur in Spanien und Portugal, sondern auch in den Staaten, wo es den Leuten noch gut geht, immer mehr der Druck kommt, dass wir Wohlstandsverluste erleiden können."
Wichtige Rede vor dem wichtigen Gipfel
Eine EU, die nicht weiterwurstelt wie bisher, sondern bei Themen wie Sicherheit oder Wohlstand endlich Ergebnisse liefert, versprechen auch die 27 Regierungschefs, die sich Ende der Woche in Bratislava zum Brexit-Gipfel treffen. Zwei Tage vor der Konferenz könnte Junckers Auftritt wichtige Akzente setzen.
Erwartet wird, dass der Kommissionspräsident für mehr Zusammenarbeit beim Schutz der EU-Außengrenzen, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie bei der Verteidigung wirbt. Auch der nach ihm benannte 300-Milliarden-Euro-Investitionsplan für mehr Wachstum und Arbeitsplätze und das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP dürften eine Rolle spielen.
Wird Juncker auch über TTIP reden? (Archivbild)
Und schließlich ist es kein Geheimnis, dass Juncker in der Haushaltspolitik - ähnlich wie die Regierungschefs der Südländer - eine sanfte Abkehr vom strengen Berliner Sparkurs befürwortet.
Die Kommission "redlich bemüht"
Kritiker wie die junge EU-Abgeordnete Terry Reintke erkennen an, dass sich die Kommission in mancher Hinsicht durchaus redlich bemühe. So habe sie Konzepte zur fairen Flüchtlingsverteilung oder für eine Asylrechtsreform vorgelegt, die dann am Widerstand einiger Mitgliedsstaaten gescheitert seien, so der Grünen-Politiker. Auch die Steuerverfahren gegen Apple & Co. wiesen in die richtige Richtung.
Reintke ist dies aber nicht genug: "Da bräuchten wir noch sehr viel mehr Aktivitäten, was einerseits die Durchsetzung geltenden Rechts angeht, aber auch was weitere legislative Schritte angeht, um zu mehr Steuergerechtigkeit zu kommen." Zudem müsse Junckers-Anspruch erfüllt werden, die EU-Kommission eines "Social Triple A" zu sein. Die Union beim Thema soziale Gerechtigkeit weiter voranzubringen.
Noch viel Arbeit vor sich
Juncker selbst, der sein Team die "Kommission der letzte Chance" nennt und immer häufiger amtsmüde wirkt, macht sich angesichts des wachsenden Nationalismus‘ und schwindender Gemeinsamkeiten über die "Lage der Union" wenig Illusionen. Zwar sieht der Luxemburger die EU etwa in der Flüchtlingsfrage besser aufgestellt als noch vor einem Jahr, doch weiß er wohl, dass mit den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen und dem schwierigen Partner Türkei noch eine Menge Arbeit wartet. Sein eigener Einfluss im europäischen Machtgefüge ist demgegenüber begrenzt.
Juncker wirkt manchmal amtsmüde. (Archiv)
Die Opposition im EU-Parlament hält den 61-Jährigen ohnehin für einen Mann von gestern. Linkspartei-Abgeordneter Fabio De Masi sagt: "Juncker verkörpert keinen glaubwürdigen Neuanfang. Er ist zwar jemand, der den Ausgleich sucht, etwa zwischen Deutschland und Frankreich, der meinetwegen Europa zusammenhalten möchte. Aber Europa kann nicht dann zusammenhalten, wenn sich Frau Merkel und Herr Hollande einig sind, sondern Europa kann nur zusammenhalten, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass Europa ihnen soziale Sicherheit und Wohlstand bringt und sie nicht bedroht."