Weg für EU-Grundlagenvertrag frei? Teilerfolg für Merkel: Polen lenkt ein
Es wäre der Durchbruch für EU-Ratspräsidentin Merkel: Polen soll einem Kompromiss zur EU-Reform zugestimmt haben. Spanische Diplomaten teilten mit, die polnische Seite habe in den jüngsten, nachgebesserten Vorschlag eingewilligt. Damit wäre aber nur ein Hindernis für den EU-Grundlagenvertrag beseitigt.
Polen soll nach einer Machtprobe mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einem Kompromiss zur EU-Reform zugestimmt haben. Die spanische Regierung teilte in der Nacht zum Samstag mit, die polnische Seite habe in den jüngsten, nachgebesserten Vorschlag eingewilligt.
Warschau sah sich durch das System der "doppelten Mehrheit" gegenüber großen EU-Ländern wie Deutschland oder Frankreich benachteiligt. Die doppelte Mehrheit soll nun in zwei Stufen zwischen 2014 und 2017 eingeführt werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am späten Freitagabend gedroht, auch ohne Polens Zustimmung über einen neuen EU-Grundlagenvertrag zu verhandeln. Man werde "Europa nicht auf der Stelle treten lassen", warnte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Brüssel. Die neue Tonart der Deutschen hatte hektische Vermittlungsbemühungen ausgelöst.
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Kanzlerin Merkel hatte vorher bereits vorgeschlagen, die umstrittene "doppelte Mehrheit" beim Abstimmungsverfahren zu verschieben und erst ab 2014 in Kraft treten zu lassen. Polen hatte dieses Angebot jedoch zurückgewiesen. Auch Polens Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, der Bruder des Verhandlungsführers in Brüssel, hatte das Merkel-Angebot im polnischen Fernsehen in Warschau als nicht ausreichend bezeichnet und auf sein Veto-Recht hingewiesen.
Regierungskonferenzen müssen immer einberufen werden, wenn EU-Verträge geändert werden sollen. Normalerweise geschieht das einstimmig. Für den Abschluss einer Regierungskonferenz ist jedoch immer Einstimmigkeit erforderlich. In der Geschichte der EU wurde erst einmal eine Regierungskonferenz mit Mehrheit einberufen. Im Juni 1985 entschieden die EG-Regierungen mit sieben gegen drei Stimmen, eine Regierungskonferenz zur Ausarbeitung der "Einheitlichen Europäischen Akte" einzuberufen. Vor allem Großbritannien war damals dagegen. Die Schlussfolgerungen der Konferenz wurden dann im Januar 1986 einstimmig angenommen.
Schreckgespenst: Spaltung der Union
Merkel strebt beim letzten Gipfel unter deutscher Präsidentschaft eine Einigung auf die zentralen Punkte des Vertrags an. Mit diesem Verhandlungsmandat soll dann eine Regierungskonferenz im Herbst den genauen Text festschreiben. Bis zur Europawahl 2009 soll der Vertrag von allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten sein.
Für den Fall eines Scheiterns haben hochrangige EU-Vertreter vor einer Spaltung der Union gewarnt. Diese Spaltung - so scheint es - ist nun erst einmal abgewendet worden. Letzte Voraussetzung dafür ist allerdings, dass alle EU-Staaten dem nun offenbar erzielten Kompromiss mit der polnischen Seite sowie dem Rest des Grundlagenvertrags zustimmen. Und ob dies geschieht, ist noch völlig offen.
"Vor langen Verhandlungen"
So meldeten unmittelbar nach Bekanntgabe der Einigung mit Polen Finnland sowie Belgien schwere Bedenken an. "Wir stehen noch vor langen Verhandlungen", sagte der belgische Regierungssprecher Didier Seeuws. Insgesamt neun Ländern gingen die vorgeschlagenen Zugeständnisse an die Verfassungsgegner zu weit. Zusammen mit Spanien, Italien, Österreich, Ungarn, Slowenien, Griechenland, Luxemburg und Malta wolle Belgien deshalb eigene Vorschläge ausarbeiten.
EU-Außenpolitikchef möglich
Auf gutem Weg zu einer Einigung soll sich nach Angaben von Diplomaten die umstrittene Frage eines neuen Chefs für die EU-Außenpolitik befinden. Demnach soll dieser den Titel eines "Hohen Repräsentanten" erhalten, der aber die gleichen Kompetenzen haben soll wie der in der EU-Verfassung ursprünglich geplante Außenminister. Damit wurde den britischen Bedenken Rechnung getragen.
Um den Vertragsrahmen Großbritannien noch schmackhafter zu machen, bot die deutsche Ratspräsidentschaft der Regierung in London an, bei Fragen der Innen- und Außenpolitik weiter eigene Wege gehen zu können. Der scheidende Premier Tony Blair bestand unter anderem darauf, dass die Grundrechte-Charta kein verbindlicher Bestandteil des neuen EU-Rechts wird. Der scheidende Regierungschef zeigte sich zuversichtlich: "Wir machen Fortschritte."
Frankreichs Bedenken gegen ein klares Bekenntnis der EU zum freien globalisierten Wettbewerb konnten bereits zerstreut werden. "Beim Mittagessen haben die Staats- und Regierungschefs Formulierungen gefunden, mit denen das Problem gelöst ist", sagte Merkels Sprecher Wilhelm. Danach solle der neue EU-Grundlagenvertrag rechtliche Sicherheit dafür bieten, dass die EU bei Kartell-Verstößen regulierend eingreifen kann, sagten Diplomaten.