Nigeria im Zeichen von Boko Haram Gescheitert, bloßgestellt, gedemütigt
Blutige Bombenanschläge, noch immer entführte Schülerinnen: Nigeria droht, durch den Boko-Haram-Terror weiter ins Chaos abzurutschen. Die Menschen protestieren gegen eine überforderte Regierung - und befürchten den Zerfall des Staates.
Die Demonstrationen nehmen kein Ende: Täglich gehen in Nigeria Hunderte Menschen auf die Straße und verlangen: "Bringt unsere Mädchen zurück!" Noch immer gibt es keine Spur von den mehr als 220 Schülerinnen, die die Terrorgruppe Boko Haram vor fünf Wochen entführt hat. Stattdessen: Immer neue blutige Bombenanschläge, Tote und Verletzte, dazu eine ratlose Regierung.
"Die Regierung tut einfach nichts, das ist eine Schande. Der wichtigste Job des Präsidenten wäre es, die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Und genau diesen Job macht er nicht", sagt ein Passant.
Komplettes Versagen der Regierung
Bei den Protesten in Nigeria geht es schon lange nicht mehr nur um die Entführung der Mädchen. Die Nigerianer rechnen mit ihrer Regierung ab, werfen ihr komplettes Versagen vor. Sie sehen ihr eigenes Land gescheitert, bloßgestellt und gedemütigt von einer islamistischen Terrorgruppe, die unterschätzt und offenbar auch für politische Machtspiele benutzt wird.
"Nigeria ist doch eine große Nation. Wir sollten die Giganten Afrikas sein - aber jetzt nennt man uns die Schwächlinge Afrikas", sagt eine Demonstrantin. Afrikas Gigant - er taumelt. Zwar sei Nigeria Afrikas Wirtschaftsmacht Nummer Eins, sagt der Blogger Rutimi Olawa. Es sei das bevölkerungsreichste, das ölreichste - aber eben auch das korrupteste Land des Kontinents.
Ölmilliarden nur für eine kleine Kaste
Die Ölmilliarden teilt nach seinen Worten eine kleine Kaste unter sich auf. Der Staat sei schwach und lasse die Menschen im Stich - auf allen Ebenen. Das Versagen im Kampf gegen Boko Haram sei nur eines der deutlichsten Symptome.
"Noch immer sind die Mädchen nicht gerettet - das ist ein Armutszeugnis. Es kann auch hier in Abuja jederzeit wieder Anschläge geben. In Nigeria kämpft jeder für sich allein, an allen Fronten des Alltags. Ich organisiere meinen eigenen Strom, mein eigenes Wasser, meine eigene Sicherheit." Bei zwei Anschlägen in zwei Monaten allein in der Hauptstadt - wer solle sich da noch sicher fühlen, fragt Olawa.
2009 glaubte Nigerias damaliger Präsident Yar Adua, noch Herr der Lage zu sein, die Armee lynchte den damaligen Boko-Haram-Anführer, den radikalen Prediger Mohamed Yusuf. Boko Haram wollte schon damals einen Gottesstaat errichten, kämpfte aber zugleich auch gegen Korruption und Armut - und davon gab es in Nigerias Norden schon damals genug.
Dennoch hätten die Leute lieber weggeschaut, sagt Nigerias Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka in einem BBC-Interview - "obwohl es von Anfang an klare Beweise dafür gab, dass Nigeria es hier mit wahnsinnigen Mördern zu tun hat, die eine große Weltreligion missbrauchen, um sich zu radikalisieren."
Boko Haram - nicht nur Verbindungen zu Al Kaida
Heute werden Boko Haram Verbindungen zu Al Kaida und anderen Netzwerken nachgesagt - aber eben auch Verbindungen zum Militär und zu Politikern des muslimisch geprägten Nordens. Denn vielen ist es schon lange ein Dorn im Auge, dass mit Yar Aduas Nachfolger Goodluck Jonathan ein Christ Nigeria führt, obwohl eigentlich ein Moslem an der Reihe wäre.
Daher torpedierten sie Nigerias Zentralregierung mit allen Mitteln, sagt der französische Terrorexperte Mathieu Guidère - und finanzierten möglicherweise den Terror gegen den eigenen Staat. Mit Geld, mit Waffen, mit geheimen Informationen. "Wir erleben eine Situation, in der einfach alles blockiert und gelähmt scheint, und zwar auf politischer, militärischer und gesellschaftlicher Ebene. Die Politik wird instrumentalisiert, ebenso wie die Religion."
Angst vor kolumbianischen Verhältnissen
Wenn die Bevölkerung nicht mit ins Boot geholt und Vertrauen aufgebaut werde, "dann könnte sich im Norden Nigerias etwas entwickeln, was wir aus Kolumbien kennen: Zeitweise war dort die Guerilla-Gruppe FARC allmächtig, der Staat spielte überhaupt keine Rolle mehr", sagt Guidère.
Davon bekommt der Norden Nigerias derzeit einen Vorgeschmack: Dort üben Bürger mit Äxten und Macheten Selbstjustiz; nigerianische Soldaten schießen schon aus Frust und Angst auf den eigenen Kommandanten. Die Reste staatlicher Ordnung scheinen sich mancherorts gerade im Nichts aufzulösen.