EuGH-Gutachten zu Kopftuch-Verboten Zwei Fälle, zwei Einschätzungen
Wo endet die Religionsfreiheit? Zwei Gutachten am Europäischen Gerichtshof kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Es geht um zwei Frauen, die im Job nicht auf ihre religiöse Kopfbedeckung verzichten wollten, und denen darum gekündigt wurde.
Worum geht es derzeit am EuGH?
Es gibt in Luxemburg zwei aktuelle Verfahren zum Thema "Kopftuchverbot":
1. Eine belgische Firma, die Rezeptionsdienste anbietet, hat all ihren Mitarbeitern untersagt, äußerliche Zeichen religiöser, politischer oder philosophischer Überzeugungen zu tragen. Als eine muslimische Mitarbeiterin ihren festen Entschluss mitteilte, auch künftig während der Arbeitszeit ein Kopftuch tragen zu wollen, wurde sie entlassen. Vor den belgischen Gerichten klagte sie darum auf Schadensersatz. Der belgische Kassationshof (das höchste ordentliche Gericht Belgiens) legte dem EuGH die Frage vor, ob das Gebot zur Neutralität eine "unmittelbare Diskriminierung" der Muslima sei.
2. In einem zweiten Fall klagt eine Software-Designerin aus Frankreich gegen ihren Arbeitgeber. Sie hatte sich geweigert, beim Kontakt mit einem Kunden ihr Kopftuch abzulegen. Der Kunde beschwerte sich darüber, die Frau wurde deshalb entlassen. Nach der entsprechenden EU-Richtlinie dürfen Mitgliedstaaten Ungleichbehandlungen von Arbeitnehmern zulassen, wenn "aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübungen wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen" bestehen. Aber: Kann man die Beschwerde eines Kunden schon als eine solche "berufliche Anforderung" auslegen? Diese Frage legte der französische Kassationshof (das höchste ordentliche Gericht Frankreichs) dem EuGH vor.
Wie ist der Stand der Dinge?
In beiden Verfahren stehen die endgültigen Urteile noch aus. Sie dürften im Herbst gesprochen werden. Aber die Schlussanträge wurden gestellt. Das sind Gutachten, die den Richtern bei ihrer Entscheidungsfindung helfen sollen. Sie sind zwar nicht bindend, stellen aber einen ersten Fingerzeig dar: In der Mehrzahl der Fälle folgen die Richter mit ihrem Urteil diesen Anträgen.
1. Im ersten Verfahren (aus Belgien) hat Juliane Kokott, deutsche Generalanwältin am EuGH, Ende Mai ihren Schlussantrag gestellt. Darin vertritt sie die Ansicht, dass ein Kopftuchverbot zulässig sein kann, wenn es sich auf eine allgemeine Betriebsregelung stützt. Die Arbeitnehmerin sei dann nicht "aufgrund ihrer Religion" diskriminiert, wenn die Firma insgesamt religiöse Neutralität herstellen will.
2. Der Schlussantrag im zweiten Verfahren (aus Frankreich) wurde heute von der britischen Generalanwältin Eleanor Sharpston gestellt. Sie kommt für diesen Fall zu einem anderen Ergebnis als ihre deutsche Kollegin: Die Kündigung der französischen Software-Designerin stelle eine Diskriminierung dar. Es sei nicht ersichtlich, dass sie ihre Aufgaben nicht habe wahrnehmen können, weil sie ein Kopftuch getragen habe. Die Beschwerde des Kunden wegen des Kopftuchs stelle keine wesentliche "berufliche Anforderung" dar, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen würde.
Ist das nicht ein Widerspruch?
Nein. Auf den ersten Blick gehen die Schlussanträge zwar in unterschiedliche Richtungen, sie betreffen aber auch unterschiedliche Fälle: Auf der einen Seite die Software-Designerin, die als Projektingenieurin arbeitete. Auf der anderen Seite die Angestellte einer Firma, die Rezeptionsdienstleistungen anbietet, also einen Job hatte, bei dem es ganz besonders auf das äußere Erscheinungsbild ankommt. Diese Firma hatte alle Mitarbeiter zu einem neutralen Dresscode verpflichtet. Dazu schreibt Generalanwältin Sharpston, dass dies zwar auch eine "mittelbare Diskriminierung" darstelle. Sie könne aber im geschäftlichen Interesse des Arbeitgebers liegen und somit einen rechtmäßigen Zweck darstellen. Das Kopftuchverbot für die Software-Designerin sei dagegen wohl kaum verhältnismäßig.
Wie ist die Situation in Deutschland?
Der EuGH prüft diese Rechtsfragen am Maßstab des EU-Rechts. Insoweit ist seine Auslegung der entsprechenden Richtlinien auch für deutsche Gerichte bindend. Auch hier gibt es zu diesem Thema verschiedene "Baustellen". Bei der rechtlichen Bewertung muss man immer die konkreten Umstände des jeweiligen Falles genau berücksichtigen. Entscheidend ist etwa, ob es um freie Arbeitnehmer geht, oder um Beamte, die im Dienst den Staat repräsentieren. Grundsätzlich bewegt sich die Diskussion immer im Spannungsfeld zwischen der Glaubensfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers und den dienstlichen Belangen des jeweiligen Arbeitgebers.
In Artikel 4 des Grundgesetz heißt es unter anderem: "Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet". Das schließt auch das Tragen religiöser Symbole und Kopfbedeckungen mit ein. Der Arbeitnehmer muss also seine Religion nicht "an der Pforte der Arbeitsstätte abgeben". In der freien Wirtschaft darf darum grundsätzlich jeder Mitarbeiter religiöse Symbole tragen, es sei denn, der Arbeitgeber schränkt dieses Recht ein. Dafür muss er aber sachliche Gründe haben, etwa Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz oder eine mögliche Störung des Betriebsfriedens. Kommt es zwischen Arbeitgeber und -nehmer darüber zum Streit, sind die Gerichte am Zug. Diese wiederum müssen, wenn sie die Fälle abwägen, immer berücksichtigen, dass das Grundgesetz der Religionsfreiheit einen hohen Stellenwert beimisst. Die Hürden für ein Verbot religiöser Symbole in der Privatwirtschaft sind also hoch. Wenn der EuGH die beiden aktuellen Verfahren (siehe oben) entschieden hat, dürfte das die Rechtssicherheit in diesem Bereich erhöhen. Auch diese Verfahren spielen ja in der privaten Wirtschaft.
Was gilt im öffentlichen Dienst?
Beamte repräsentieren in ihrem Dienst "den Staat". Der wiederum ist zur Neutralität in Sachen Religion verpflichtet. Das folgt aus dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit - das ja in erster Linie ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat ist. Wenn also die Bundesrepublik ihren Bürgern gegenübertritt, muss sie sich weltanschaulich zurückhalten. Das Grundgesetz sagt aber auch, dass niemandem der Zugang zum öffentlichen Dienst aufgrund seiner Religion verwehrt werden darf. Wenn also Beamte oder öffentlich Bedienstete religiöse Symbole tragen wollen, bedarf es auch hier immer einer Abwägung zwischen diesen widerstreitenden Interessen. In der jüngeren Vergangenheit gab es einige spektakuläre Fälle mit dieser Konstellation.
Welche Fälle sind in Deutschland aktuell?
Erst vor zwei Wochen hat das Verwaltungsgericht Augsburg mit einem Urteil für Aufsehen gesorgt: Die bayerischen Richter gaben einer muslimischen Rechtsreferendarin Recht, die sich gegen das Kopftuchverbot im Referendarsdienst gewehrt hat. Das Oberlandesgericht München hatte ihr zuvor untersagt, in bestimmten Phasen ihrer juristischen Ausbildung, etwa beim Sitzungsdienst für die Staatsanwaltschaft, das Kopftuch zu tragen. Grundlage dafür war eine Verordnung des bayerischen Justizministeriums. Die aber reichte den Verwaltungsrichtern nicht aus. Für einen solch erheblichen Eingriff in die Glaubensfreiheit sei ein formelles Gesetz notwendig - und ein solches existiere in Bayern nicht. Mit ihrer Argumentation verwiesen die Verwaltungsrichter auf die erste "große" Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot aus dem Jahr 2003. Auch Karlsruhe sagte damals: "Eingriffe ins Grundrecht der Glaubensfreiheit nur auf Grundlage eines Gesetzes!" Das Urteil aus Augsburg ist noch nicht rechtskräftig, Bayerns Justizminister Winfried Bausback hat Rechtsmittel dagegen angekündigt. Sollte der Freistaat damit keinen Erfolg haben, dürfte eine Gesetzesinitiative anstehen.
Kann ein Bundesland ein pauschales Kopftuchverbot für Beamte per Gesetz anordnen?
Nein - zumindest an Schulen geht das nicht. Das hat Karlsruhe in einem Beschluss aus dem Jahr 2015, bei dem es um zwei muslimische Lehrerinnen aus Nordrhein-Westfalen ging, klargestellt. Das Bundesverfassungsgericht sagte damals, dass ein Schulgesetz nicht einfach ein pauschales Kopftuchverbot aufstellen dürfe. Wenn Lehrerinnen Kopftuch tragen, sei das zunächst als Ausdruck ihrer Religionsfreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft ganz legitim. Schüler müssten von ihnen genauso wenig "ferngehalten" werden, wie von christlichen, jüdischen oder atheistischen Lehrern. Der gesamte Lehrkörper sei also gewissermaßen der Spiegel einer bunten Gesellschaft. Und Schüler seien nicht gefährdet, wenn sie verschiedene Aspekte dieser Gesellschaft erleben. Ein Verbot des Kopftuchs an der Schule sei erst dann gerechtfertigt, wenn sonst der Schulfrieden gefährdet sei. Dafür müsse es aber konkrete Hinweise geben, etwa eine Lehrerin, die Kinder zu "missionieren" versucht. Weil das Schulgesetz aus Nordrhein-Westfalen insoweit verfassungswidrig war, musste es geändert werden. Das gleiche galt für die Schulgesetze anderer Bundesländer, die fast wortgleich formuliert waren.
Gilt für die Justiz möglicherweise etwas anderes als für Schulen?
Das ist die spannende Frage - noch ist sie nicht geklärt! Die Justiz und das Schulwesen sind aus mehreren Gründen nicht 1:1 vergleichbar. An Schulen haben die Schüler täglich mit mehreren Lehrern zu tun, der Lehrkörper repräsentiere in seiner Breite die Gesellschaft. Für das Bundesverfassungsgericht war das im Beschluss von 2015 ein wesentliches Argument. Ein solches Spektrum gibt es für den Bürger, der mit der Justiz in Kontakt kommt, nicht: Für jeden Fall, der vor Gericht landet, ist über Geschäftsverteilungspläne klar definiert, wer der zuständige Richter ist. Als Kläger oder Beklagter (oder gar als Angeklagter in einem Strafprozess) sieht man sich immer nur mit "seinem" Richter konfrontiert.
Alle Richter sind frei in ihrem Amt, aber eben auch strengstens zur Neutralität verpflichtet. Dafür gibt es bereits ein äußerliches Merkmal: die schwarze Richterrobe. Sie soll symbolisieren: Der Richter achtet bei seinem Urteil nur auf Recht und Gesetz. Religion, Politik und Weltanschauung bleiben bei seinen Urteilen außen vor, werden gewissermaßen von der Robe verdeckt. Verträgt sich das mit dem Tragen eines Kopftuchs? Und wenn Richter ohnehin schon diese "Kleidungsvorschrift" auferlegt bekommen, ist es ihnen dann nicht auch zumutbar, eine weitere Auflage, nämlich den Verzicht auf ein Kopftuch, zu erfüllen?
Ein anderer Punkt könnte aber dafür sprechen, entspannt mit einem Kopftuch im Gerichtssaal umzugehen: Es geht immer noch um die Anwendung und Auslegung deutschen Rechts, nicht der Scharia. Daran ändert auch eine Kopftuch tragende Richterin nichts.
Und: Niemand muss einen voreingenommenen Richter akzeptieren. Wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen, kann sowohl im Zivil- wie auch im Strafprozess der jeweilige Richter abgelehnt werden. Ob schon das Tragen eines Kopftuchs einen solchen Grund darstellt, wurde noch nicht entschieden. Es ist schlicht noch nicht vorgekommen.
Es wird spannend, zu beobachten, welche gesetzlichen Regelungen in diesem Bereich verabschiedet werden. Und natürlich inwieweit diese der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts standhalten.