Vor Schottland-Abstimmung Ohrenbetäubendes Schweigen in Brüssel
Ein EU-Land droht sich zu spalten. Und die EU? Schweigt. Offiziell zumindest. Dabei gibt es in der Tat ein paar Fragen, die zu klären sind. Zum Beispiel: Was ist mit Artikel 49 des EU-Vertrags? Alles nur Paragrafenreiterei? Und was hat Spanien damit zu tun?
Ein bisschen genervt, ansonsten aber eher gelassen, gab sich die EU-Kommission am Vorabend des Referendums. Auf die Frage, was denn so vorgesehen sei, wenn das Ergebnis vorliege, hieß es nur lapidar: Es gibt keine Pläne.
Seit Wochen versuchen Brüsseler Journalisten zu ergründen, wie die Europäische Union auf den noch nie dagewesenen Fall der Spaltung eines EU-Landes reagieren wird. Doch die Kommission hüllt sich in Schweigen, denn: "Wir sind der Ansicht, dass wir uns jetzt, im letzten Stadium der schottischen Kampagne, nicht einmischen sollten in diesen internen demokratischen Prozess, den Schotten und Briten gerade vollziehen", so Kommissionssprecherin Pia Ahrendhilde.
Dabei hatte sich Kommissionschef José Manuel Barroso sehr wohl bereits eingemischt - Anfang des Jahres im britischen Fernsehen. Auf die Frage, was denn im Falle des Falles aus der EU-Mitgliedschaft der Schotten werden solle, antwortete er: "Ich glaube, es wird sehr schwer, wenn nicht unmöglich, dass ein aus einem Mitgliedsstaat stammendes neues Land die Zustimmung aller in der EU erhält."
Artikel 49 des EU-Vertrags - nur Paragrafenreiterei?
Aber genau das wäre rein juristisch notwendig, damit die Schotten auch ohne Großbritannien europäisch bleiben dürften: die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten zu einem potenziellen Neumitglied. Nachzulesen in Artikel 49 des EU-Vertrags. Doch ob Paragrafenreiterei in diesem Fall wirklich weiterhelfe, sei zweifelhaft, meint Fabian Zuleeg vom European Policy Center, einer Brüsseler Denkfabrik. "Zuerst einmal ist Schottland in jedem Fall ein Sonderfall. Wir haben diese Situation noch nie gehabt. Für mich ist das Wichtige, dass es kein wirklich juristischer Prozess ist, es ist ein politischer Prozess." Es gehe darum, was die anderen Mitgliedsstaaten wollten und besonders, was London wolle. Denn: "Wenn ein unabhängiges Schottland außerhalb der EU ist, würde das auch für London große Kosten bedeuten, das heißt, der größte Verfechter für den Verbleib Schottlands in der EU wird London sein."
Dementsprechend könnte der größte Gegner Spanien heißen. Denn dort bereitet sich die wohlhabendste Region des Landes auf ein ähnliches Referendum vor: Katalonien. Am 9. November soll es soweit sein. Dafür demonstrierten Hunderttausende Katalanen vergangene Woche in den Straßen Barcelonas.
Erst die Katalanen, dann die Flamen, dann die Südtiroler?
Doch aus EU-Sicht liegt der Fall Katalonien völlig anders. Denn während die Schotten ein verbrieftes Recht auf ihr Referendum haben, ist Kataloniens Volksentscheid keinesfalls rechtlich bindend. Spanien wäre demnach sicher nicht bereit, die Katalanen ziehen zu lassen. Ebenso verhält es sich mit den Flamen in Belgien oder den Südtirolern in Italien. Trennung durch einfachen Volksentscheid: unmöglich.
Wäre es denn tatsächlich eine Katastrophe, wenn aus einem Großbritannien demnächst zwei autonome Staaten würden? "Es kann nicht im Sinne der Europäischen Union sein, demokratische Länder, die auf einer freien Entscheidung der Bürger zur Separation entstehen, dauerhaft aus der EU herauszuhalten, wenn sie in der EU sein möchten", sagt Politikwissenschaftler Zuleeg. Deshalb sei es auch sehr wahrscheinlich, dass ein unabhängiges Schottland bereits am ersten Tage seiner Selbstständigkeit, also in rund 18 Monaten, EU-Mitglied sein werde. Wirklich ins Schwitzen bringen könnte die EU dagegen nur ein anderes Ereignis: das für 2017 geplante Referendum der Briten, dann über einen EU-Ausritt.