Angst vor Machtverlust Der Feldzug der Margaret Thatcher
Der Mauerfall löste bei unseren europäischen Nachbarn neben Freude auch Ängste aus. Ein größeres Deutschland könnte zu stark werden, so die Befürchtung. Margaret Thatcher versuchte damals sogar aktiv, eine Wiedervereinigung zu verhindern - auch aus ganz eigennützigen Motiven.
Von Barbara Wesel, RBB-Hörfunkkorrespondentin London
Dass es keine Liebe zwischen der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher und Kanzler Helmut Kohl gab, ist bekannt. Die Eiserne Lady traute dem Deutschen nicht, verstand ihn nicht und konnte ihn nicht leiden. Und dass sie ursprünglich bei den politischen Partnern in Paris und Washington auch gegen die schnelle Wiedervereinigung Deutschlands argumentiert hatte, ist ebenfalls kein Geheimnis. Im September aber nun wurden Geheimdokumente aus dem Archiv des Kreml öffentlich, die zeigen, dass die britische Premierministerin so weit gegangen war, ihr Missfallen an der politischen Entwicklung sogar dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vorzutragen. Ihm sagte sie bei einem Treffen in Moskau ganz deutlich: Wir wollen kein vereinigtes Deutschland!
Die Angst vor dem eigenen Machtverlust...
Das war eigentlich eine Art Verrat. Von allen Regierungschefs, die damals beunruhigt auf die deutsche Entwicklung schauten, schien sie die entstehende Einheit mit der größten Abneigung zu verfolgen. Warum? Es habe zwei Gründe gegeben, sagt der Historiker Andrew Roberts, der in London die Archive ihrer Regierungszeit betreut: "Sie fürchtete, dass Deutschland Europa dominieren würde". Es sei nicht darum gegangen - wie manche meinen - dass sie eine Wiederkehr der Nazis fürchtete. Aber, "was sie fürchtete war, dass die Macht von Frankreich und Großbritannien im Verhältnis zu Deutschland im Laufe der Zeit unausweichlich abnehmen würde", so Roberts. Es war also eine ganz realistische Angst vor eigenem Machtverlust, die sie dazu brachte, in den europäischen Hauptstädten eine Art Anti-Einheits-Feldzug zu betreiben.
...und eine historische Fehleinschätzung
Darüber hinaus aber spielte noch ein weiterer Grund eine Rolle, der sich allerdings als historische Fehleinschätzung erwies: Thatcher sah die Entwicklung als einen extrem gefährlichen politischen Moment, an dem "der ganze Kalte Krieg, der bis dahin vom Westen ziemlich gut im Zaum gehalten worden war, plötzlich wieder heiß werden könnte", erklärt Historiker Roberts.
Denn den Zerfall der Sowjetunion sah die britische Regierungschefin damals nicht voraus, und so war es die alte Angst vor Russland, die in ihren Augen dafür sprach, eine langsame Auflösung des Warschauer Paktes anzustreben - mit zunächst zwei deutschen Staaten. Die Angst sei gewesen, dass "ein revanchistisches Russland die deutsche Einheit als Grund nutzen könnte, mit dem Säbel zu rasseln". Bloß war tatsächlich der Vorrat an Säbeln 1990 im Kreml schon ziemlich rostig geworden.
"Nur das, was zu ihrem negativen Bild passte"
Darüber hinaus aber: Wieviel emotionale Abneigung gegen Deutsche und Deutschland spielte bei Margaret Thatchers Politik eine Rolle? "Sie war nie Deutschen-freundlich, germanophil", bestätigt Roberts. Bei einem legendären Treffen auf dem Landsitz Chequers ließ sie sich damals von Botschaftern und Historikern über den deutschen Charakter aufklären. Timothy Garton Ash war dabei, Gordon Craig, Norman Stone, Fritz Stern - berühmte und ehrenwerte politische Köpfe. Bloß das Ergebnis war schockierend: "Wenn ein einzelner Mensch all diese Charakterfehler hätte, würde er ins Irrenhaus gesteckt", sagt Roberts. Aggressiv, egoistisch, voller Angst und Minderwertigkeitsgefühlen, aber auftrumpfend und rücksichtslos seien die Deutschen, so das Ergebnis der Runde. Margret Thatcher habe damals nur auf das gehört, was sowieso mit ihrem sowieso negativen Bild übereinstimmte, räumt auch ihr politischer Nachlassverwalter Andrew Roberts ein.
Und dann, als die Einheit trotz allem kam, und über alle Widerstände hinweg rollte? Schon in ihrer Autobiographie 1993 habe sie den Fehler zugeben: "Sie nannte es ihren größten außenpolitischen Fehler - sie war einfach entsetzt darüber, wie schnell die Verträge von 1945, die Aufteilung der damaligen Welt in Fetzen fielen" - quasi über Nacht. Aber sie räumte später ein: "Sie hatte falsch gelegen und die Deutschen richtig damit, für eine schnelle Vereinigung zu arbeiten".
Heute jedoch würden auch die britischen Konservativen einsehen, erklärt Andrew Roberts, dass Deutschland die größte Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte sei. "Ein friedliebendes, erfolgsreiches, hart arbeitendes Land, das eine Modell-Demokratie ist." Nur die Meinungsverschiedenheit über die Zukunft Europas werde als Riss zwischen beiden Ländern bleiben, zwischen integrationsfreudigen Deutschen und euroskeptischen Briten, meint der Historiker. Aber damit werden wir uns erst im nächsten Jahr befassen müssen, wenn in London möglicherweise wieder die Konservativen an die Regierung kommen.