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AfD-Spitzenkandidat Bernd Lucke Der konformistische Rebell

Stand: 05.05.2014 13:27 Uhr

Erfolgreicher Professor, Vater von fünf Kindern, langjähriges CDU-Mitglied – und Kämpfer für die Interessen des kleinen Mannes. AfD-Spitzenkandidat Lucke präsentiert sich als konformistischer Rebell. Er trifft damit den Nerv vieler Bürger.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Bernd Lucke verbittet es sich, als Populist bezeichnet zu werden. Und in der Tat wirkt der Professor für Makroökonomie der Uni Hamburg durch und durch seriös. Einer, der mit Zahlen umgehen kann, der nach logischen Lösungen sucht, der Politik in mathematische Formeln verpackt, die aufgehen. Ein verantwortungsbewusster Vater von fünf Kindern, der in der heilen Welt vor den Toren Hamburgs lebt. Ein erfolgreicher Wissenschaftler, der mit 51 Jahren noch erstaunlich jugendlich wirkt und sich in der Kirchengemeinde engagiert. Kurzum: Im konservativen Sinne ein Vorbild an Zuverlässigkeit, Bürgernähe sowie Bodenständigkeit.

Rechnungen mit vielen Unbekannten

Doch dann ist da auch noch der AfD-Spitzendkandidat Lucke, der einen Gastbeitrag im "Handelsblatt" dazu nutzt, um mit fragwürdiger Argumentation vor "Armutszuwanderung" zu warnen: "Seit Jahresbeginn genießen Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien volle Freizügigkeit. Dies weckt Ängste vor einer Armutsmigration, angelockt von unseren um das Fünffache höheren Sozialleistungen." 

Vorerst bis Ende September ist Lucke an der Uni beurlaubt. Die Auszeit vom akademischen Betrieb hat er genommen, um Politik zu machen. Ob er mit solchen Rechnungen, wie im Fall der vermuteten Armutszuwanderung aufgestellt, bei seinen Studenten durchkommen würde, erscheint fraglich: Fünffache Sozialleistung in Deutschland, so Luckes Gleichung, ergibt eine x-fache Zuwanderung aus Osteuropa. Dass die Lebenskosten in Deutschland ebenfalls deutlich höher liegen, klammert er aus. Auch, dass vor jeder EU-Osterweiterung lauthals vor vielen Einwanderern gewarnt wurde - und diese "Welle" jedes Mal ausblieb - wird bei Luckes Rechnung nicht berücksichtigt. Auch müssten Luckes Annahme zufolge Hunderttausende von arbeitslosen Deutschen nach Schweden strömen, um dort höhere Sozialleistungen zu genießen. Kurzum: Seine Argumentation steht auf tönernen Füßen.

"Regierung beschönigt und verschweigt"

Die "FAZ" attestierte Lucke, er sei kein Populist, vielmehr ein typischer Professor. Diese seien „stets sehr überzeugt von dem, was sie sagen“, weil sie lange darüber nachgedacht hätten. In der Tat kann man davon ausgehen, dass Lucke sich genau überlegt, auf welche Themen er setzt, wie er sie verkauft und wie er sich selbst präsentiert - nämlich als Anwalt des kleinen Mannes, der von "denen da oben" belogen wird. Und so wirft Lucke der Regierung vor, sie tue, "was sie immer tut, wenn sie auf ein großes Problem keine Antwort hat: Sie beschönigt, beschwichtigt und - verschweigt".

Lucke argumentiert durchaus populistisch, wenn er die von ihm diagnostizierten Ängste in der Bevölkerung vor einer angenommenen Zuwanderung kurzerhand zu einem großen Problem erklärt, das von den Regierenden einfach abgetan werde. Er hantiert zudem mit Stereotypen: „Und wenn die Rumänen und Bulgaren nun dennoch kommen? Wenn sie kommen, mit acht Kindern, obwohl es kein Kindergeld gibt, und unter den Brücken schlafen, weil es kein Wohngeld gibt?"

Thesen geschickt formuliert

Lucke würde auch hier jeden Vorwurf zurückweisen, solche Bilder seien populistisch oder sogar ausländerfeindlich. Denn Ausländer seien willkommen, "wenn er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie mit redlicher Arbeit verdient". Warum Lucke hier den Begriff "redlich" einschiebt, wird klar, wenn er warnt, "viele Sorgen, Ängste und Ressentiments ranken sich um Kriminalität durch Armutsmigranten". Und weiter: "Unsere Gesetze erlauben Abschiebung nur bei schwerer Kriminalität. Das ist falsche Rücksichtnahme. Auch Kleinkriminelle haben bei uns nichts zu suchen." Das ist nichts anderes als die Parole "Kriminelle Ausländer raus!" - nur eleganter formuliert.

Zudem versteht Lucke es, wirtschaftsfreundliche Politik als sozial zu verkaufen und so auch Wähler aus dem Milieu der Linkspartei für die AfD zu gewinnen. Zum Mindestlohn formulierte er, dieser sei "die Entsolidarisierung des Staates gegenüber den geringqualifizierten Arbeitnehmern". Er sei gegen den Mindestlohn, weil "der Staat die Unternehmen, die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte anbieten, allein" lasse und seine Aufgaben an die Firmen übertrage. Das klingt doch besser als: "Der Mindestlohn ist für die Wirtschaft viel zu teuer."

Kein Bündnis mit Wilders

Angesichts solcher Argumentationsmuster und Themen wie Armutszuwanderung, Islam oder Schutz der klassischen Familien haben bereits mehrere Wissenschaftler der AfD deutliche rechtspopulistische Tendenzen attestiert. Doch dies weist Lucke immer wieder empört zurück - und auch im Europaparlament will sich die AfD nicht mit Rechtsradikalen einlassen: Eine Gesprächseinladung des Front National oder des Niederländers Geert Wilders habe man nicht bekommen - und man hätte sie auch abgelehnt, betonte Lucke. Als Gründe führte er die antiwestliche Ausrichtung des Front National oder die Islamfeindlichkeit der Rechtspopulisten in den Nachbarländern an.

Unter anderem wegen solcher Äußerungen ist Lucke in der Partei nicht unumstritten. Er verlangt Basisdemokratie, wollte sich in der AfD aber eine ungewöhnliche Machtfülle sichern. Ein Plan, mit dem er auf dem Parteitag Ende März krachend scheiterte. Und viele in der AfD setzen sehr wohl auf Parolen gegen den Islam - genau wie eine prowestliche Ausrichtung alles andere als selbstverständlich ist. Vielmehr schlagen sich viele Anhänger, Mitglieder und auch Funktionäre der AfD im Ukraine-Konflikt auf die Seite Russlands.

Glaube und Ökonomie

Es sind solche Widersprüche, die Luckes politische Agenda prägen: Der biedere Professor aus Winsen an der Luhe, der sich als einfacher Mann des Volkes präsentiert und doch viel eher zur Elite gehört: Mehr als 30 Jahre CDU-Mitglied, Stipendiat der Volkswagen-Stiftung, Gast-Professor in den USA. Lucke leitete Forschungsprojekte zum Nahen Osten, die von der EU gefördert wurden, und will nun in das Europaparlament einziehen - durch Stimmung gegen die EU. Er will nichts mit Rechtspopulisten zu tun haben und veröffentlicht doch Thesen zum Islam und bedient Ressentiments über Osteuropäer.

Um das Phänomen Lucke begreifen zu können, ist ein Punkt zentral: Der AfD-Spitzenkandidat ist engagierter evangelisch-reformierter Christ. Dies lässt sich an seiner politischen Agenda deutlich ablesen, die vom Calvinismus stark beeinflusst ist: protestantische Askese, Fleiß und Arbeitseifer, wirtschaftlicher Wohlstand als Zeichen der Erwählung, Unabhängigkeit vom Staat und der Glaube an die Wahrheit sowie Sendungsbewusstsein.

In Luckes Weltbild scheint, wie in ökonomischen Rechnungen oder in Glaubensfragen, nur eine Wahrheit zu existieren. Doch in einer modernen und unübersichtlichen Gesellschaft gibt es viele Wahrheiten. Daher erscheint Lucke vielen konservativen Bürgern als Hoffnungsträger, der klare Antworten und Orientierung bietet. Begriffe wie redlich und mutig, Wahrheit und Vernunft sind Eckpfeiler seiner Rhetorik und Weltsicht. Lucke betont seine Bodenständigkeit als Kompetenz gegen abgehobene Politiker und die bürokratische EU. Im Europaparlament möchte er im Ausschuss für Wirtschaft und Währung "die Interessen der Steuerzahler" vertreten. Der AfD-Spitzenkandidat ist ein konformistischer Rebell - und trifft damit den Nerv vieler Bürger.