EU-Asylpläne Schnelle "Grenzverfahren" auch für Syrer möglich
Entgegen der Ankündigung von Innenministerin Faeser sind die schnellen "Grenzverfahren" auch für Menschen aus Staaten mit hohen Anerkennungsquoten möglich. Zudem werfen die EU-Asylpläne weitere Fragen auf.
Lange wurde über sie gerungen, Anfang Juni folgte schließlich die Einigung: Die Rede ist von den neuen EU-Asylplänen. Als "historischen Erfolg" bezeichnete Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Kompromiss im Anschluss, den sie gemeinsam mit den Innenministerinnen und Innenministern der anderen EU-Mitgliedstaaten erzielt hatte.
Im Fokus der Pläne stehen sogenannte "Grenzverfahren" direkt an der EU-Außengrenze. Diese sollen nach Ansicht der EU-Innenminister sicherstellen, dass Menschen mit geringer Aussicht auf ein Bleiberecht innerhalb der EU identifiziert und bei negativem Ausgang direkt abgeschoben werden.
Die "Grenzverfahren" sind nicht als vollwertige Asylverfahren geplant und sollen in maximal zwölf Wochen abgeschlossen sein. Während dieser Zeit sollen die Asylsuchenden das Territorium der EU nicht betreten dürfen, sondern in geschlossenen "Asylzentren" auf EU-Boden bleiben - die Rede ist vom "Prinzip der fiktiven Nichteinreise".
Als Grundlage für die "Grenzverfahren" sollen zum einen die Schutzquoten der Herkunftsländer der Asylsuchenden herangezogen werden - also wie viele Menschen aus diesem Land in der Vergangenheit einen Schutzstatus in einem EU-Mitgliedsstaat erhalten haben. Liegt die Quote unter 20 Prozent, müssen die Asylsuchenden in das "Grenzverfahren". Auch für Gefährder und Menschen, die die Behörden getäuscht haben, sollen die "Grenzverfahren" verpflichtend sein.
Innenministerin Faeser betonte in Interviews vor allem immer wieder die Schutzquote. "Das gilt nur für diejenigen, die unter einer Schutzquote von 20 Prozent liegen", sagte Faeser zum Beispiel in der ARD-Sendung Maischberger dazu. "Das heißt, Menschen, die aus Krieg und vor Terror geflohen sind, betrifft das nicht - also zum Beispiel keine Syrer und Afghanen."
Doch das ist zumindest deutlich verkürzt. Denn in den Erwägungsgründen der geplanten "Asylverfahrensverordnung" heißt es unter anderem: "In anderen Fällen, z. B. wenn der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat oder einem sicheren Drittstaat stammt, sollte die Anwendung des 'Grenzverfahrens' den Mitgliedstaaten freigestellt sein." Das bedeutet: Auch Menschen aus Ländern mit hohen Schutzquoten wie Syrien oder Afghanistan können für die "Grenzverfahren" infrage kommen.
Viel Handlungsspielraum für Mitgliedstaaten
Die Erwägungsgründe sind zwar nicht rechtsverbindlich, dienen den EU-Mitgliedstaaten jedoch als Grundlage für die Auslegung des Rechts. "Den einzelnen Mitgliedstaaten wird dadurch ein sehr großer Handlungsspielraum überlassen", sagt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. "Und damit straft man ja auch diese vollmundigen Ankündigungen Lügen, man hätte ein gemeinsames europäisches System geschaffen."
Flüchtet ein Syrer beispielsweise über die Türkei nach Griechenland, könnte er somit zurück in die Türkei abgeschoben werden, da das Land von Griechenland als sicherer Drittstaat angesehen wird. Auf Anfrage des ARD-faktenfinders widerspricht das Bundesinnenministerium (BMI) dieser Lesart nicht, fügt jedoch hinzu: "Dies entspricht der bereits geltenden Rechtslage nach der Asylverfahrensrichtlinie, so dass hierin keine Neuerung mit der nun erzielten Einigung zu sehen ist."
Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, ergänzt: Auch für Menschen, denen beispielsweise vorgeworfen wird, falsche Angaben über ihre Identität gemacht zu haben oder Dokumente zurückzuhalten, sollen die "Grenzverfahren" obligatorisch sein - unabhängig vom Herkunftsland. Auch Erik Marquardt von den Grünen kritisiert deshalb die Kommunikation des BMI zu den "Grenzverfahren".
Einige Drittstaaten erlauben keine Rückführungen
In der Praxis könnten diese Regelungen laut Pichl zu behördlicher Willkür führen, wie Pilotprojekte auf den griechischen Inseln wie Lesbos, Kos oder Samos zeigten. Dort gibt es bereits seit März 2016 beschleunigte Asylverfahren, die ab 2021 ausgeweitet wurden. "Die griechischen Behörden behandeln für Syrer, Afghanen, Pakistaner und Somalier die Türkei als sicheren Drittstaat. Die Menschen kommen in diesen Einrichtungen an, bekommen keine vollwertige Asylanhörung, werden abgelehnt, können aber auch nicht zurückgeschoben werden, weil die Türkei sie nicht aufnimmt. Und dann bleiben die Menschen auf den Inseln festgesetzt."
Denn nur weil ein EU-Staat ein Transitland als sicheren Drittstaat einstuft, heißt das nicht, dass dieses Land auch bereit ist, geflüchtete Menschen zurückzunehmen. Das BMI weist darauf hin, dass bereits nach der jetzt gültigen Rechtslage das Prinzip der Nichteinreise aufgehoben werde und die Person einreisen dürfe, wenn eine Rückführung nicht erfolgreich und die Frist für das Rückkehrgrenzverfahren abgelaufen sei.
Pichl widerspricht: "Wir erleben ja gerade das Gegenteil an den Außengrenzen. Die Menschen werden zum Beispiel auf den griechischen Inseln festgesetzt und auch Deutschland verwehrt sich beispielsweise Familienmitglieder aufzunehmen, die einen Anspruch auf Umverteilung haben."
Generell hält Pichl die Anerkennungsquote nicht als geeignete Grundlage für Asylentscheidungen, da fluchtrelevante Konflikte spontan entstünden. Eine Quote, die auf Entwicklungen aus der Vergangenheit beruht, sei daher widersinnig.
"Riesiges rechtsstaatliches Problem"
Nach Ansicht der Expertinnen und Experten gibt es weitere Kritikpunkte an den geplanten "Grenzverfahren". Laut BMI werde auch in den "Grenzverfahren" nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geprüft. So könnten Schutzsuchende bei Ablehnung des Antrags Klage erheben, die auch aufschiebende Wirkung auf eine eventuelle Abschiebung haben könne.
Kohlenberger hält dies jedoch nicht für umsetzbar. "Pilotprojekte in unterschiedlichen Lagern haben gezeigt, dass sich das nicht bewerkstelligen lässt - vor allem nicht in drei Monaten", sagt sie. Denn es gebe beispielsweise viel zu wenig Anwälte für die vielen Geflüchteten.
Kohlenberger sieht in den "Grenzverfahren" dadurch im Ergebnis eine Aushöhlung des Asylrechts. Denn in der Praxis hätten Menschen bei einem negativen Bescheid kaum eine Möglichkeit, sich adäquat rechtlich vertreten zu lassen: "Es sind dadurch keine fairen, rechtsstaatlichen, regulären Verfahren." Die Praxis zeige auch, dass sowohl NGOs als auch Anwälte bei solchen Verfahren schnell kriminalisiert oder nicht zugelassen würden, beispielsweise aufgrund bürokratischer Hürden, so Kohlenberger.
Auch Pichl sieht die "Grenzverfahren" kritisch. "Das ist ein riesiges rechtsstaatliches Problem, dass wir bei vielen Menschen gar nicht inhaltlich prüfen, ob sie Asylanspruch haben oder nicht", sagt er. Die beschleunigten Verfahren seien zudem extrem fehleranfällig. Ob die geplanten "Asylzentren" juristisch haltbar sind, ist ebenfalls fraglich. So hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 2020 die ungarischen "Transitzonen" in einem Urteil als unzulässige Haft bezeichnet, was zu deren Schließung führte.
Demnach sei einem Asylsuchenden nicht zuzumuten, in einen Drittstaat auszureisen, weil zum einen der Grenzübertritt in den Drittstaat selbst illegalisiert sei und eine unerlaubte Einreise darstellen könne, sagt Pichl. Zum anderen weil dann das Asylverfahren des Schutzsuchenden eingestellt werde. "Deswegen haben wir es dann mit faktischer Haft zu tun, weil der Asylsuchende faktisch weder vor noch zurück kann."
Das BMI betont, dass bei den geplanten "Asylzentren" kein Freiheitsentzug vorliege, da den Menschen zwar die Einreise in die EU verwehrt werde, nicht jedoch die Ausreise in Drittstaaten. Zudem seien die Asyl- und Rückkehrgrenzverfahren zeitlich begrenzt.
Strengere Regeln für "Sekundärmigration"
Ein weiterer Punkt, der nach Ansicht von Pichl in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle gespielt hat, ist die Verschärfung der Regeln für die sogenannte Sekundärmigration. Diese beschreibt die Bewegung von Geflüchteten von einem EU-Mitgliedsstaat in ein anderes, also beispielsweise von Griechenland nach Deutschland. In der EU ist eigentlich vorgesehen, dass Menschen ihren Asylantrag im Land ihrer Ersteinreise stellen - in der Praxis reisen jedoch viele Asylsuchende irregulär weiter in andere EU-Mitgliedstaaten.
In einer Pressemitteilung der EU zur neuen "Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung" heißt es, "Sekundärbewegungen sollen verhindert werden". Um das zu erreichen, soll der EU-Mitgliedsstaat der ersten Einreise künftig zwei Jahre für den Asylantrag zuständig sein, unter gewissen Umständen sogar noch länger. Zudem sollen Menschen bei Sekundärmigration keine materiellen Leistungen mehr bekommen.
"Das heißt, dann werden Menschen aus Sozialleistungsbezügen ausgeschlossen, ohne zu wissen, wie lange sie sich noch im Land aufhalten werden", sagt Pichl. Seiner Meinung nach ein Widerspruch zur Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts: Denn das urteilte im Jahr 2012, dass "migrationspolitische Erwägungen" kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.
Zudem sollen auch sekundärgewanderte unbegleitete Minderjährige nach der neuen Reform in den Ersteinreisestaat zurückgeführt werden, es sei denn, es sei "nicht im besten Interesse des Minderjährigen". Auch hier sieht Pichl einen Verstoß gegen aktuelles EU-Recht. Denn der EuGH hatte im Jahr 2013 geurteilt, dass für das Asylverfahren eines unbegleiteten Minderjährigen das Land zuständig sein muss, in dem dieser sich tatsächlich aufhält.
Bevor die neuen EU-Asylpläne in Kraft treten können, müssen sie jedoch noch im sogenannten Trilog - also von EU-Kommission, Rat und Parlament -final verhandelt werden. Auch bei einer schnellen Einigung werden sich die angestrebten Ziele erst in etwa drei Jahren erreichen lassen.