Videos aus der Ukraine Auf der Spur von Kriegsverbrechen
Zerstörte Kindergärten und Kliniken, getötete Zivilisten, misshandelte Gefangene: Videos aus der Ukraine zeigen viele mutmaßliche Kriegsverbrechen. Aber wie können diese geprüft werden?
Leichen, die in Massengräbern liegen. Zerstörte Wohngebiete und Menschen, die kein fließendes Wasser haben, Angriffe auf Krankenhäuser: All das sind Belege für russische Kriegsverbrechen, die die Mission der Vereinten Nationen in der Ukraine sammelt.
Matilda Bogner von der UN sagt: "Wir haben Beweise gefunden, die ein Gericht prüfen und zu dieser Feststellung kommen kann. Wir glauben, dass es starke Beweise gibt, die weiter untersucht werden müssen. Beweise für Kriegsverbrechen." Das Ausmaß der Zerstörung ziviler Objekte und die vielen zivilen Opfer deuten laut Bogner stark darauf hin, dass es Völkerrechtsverstöße gegeben habe. "Insbesondere wahllose Angriffe und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht können in diesem Fall Kriegsverbrechen bedeuten", so Bogner.
Bogner und ihr Team gehen davon aus, dass allein in Mariupol tausende Zivilisten getötet worden sind. Der Zugang in die eingekesselte Hafenstadt ist nicht möglich. Die unabhängige Überprüfung von Informationen daher kompliziert.
Zerstörter Kindergarten
Der russische Überfall hat die Ukrainerin Maria Avdeeva zur Kriegsberichterstatterin gemacht. Eigentlich forschte sie als Politikwissenschaftlerin zu russischer Desinformation. Jetzt dokumentiert sie die Zerstörungen in ihrer Heimatstadt Charkiw im Nordosten.
Avdeeva sagt, sie habe beobachtet, wie Russland mit Desinformationen den Nährboden für den Krieg über Jahre bereitet habe. "Als die Invasion am 24. Februar begann, sah ich, dass eine riesige Desinformationswelle losbrach". Ihr sei dann "klar geworden, dass es in Charkiw nur noch wenige Menschen gibt, die echte Informationen weitergeben können. Jemand musste zeigen, was wirklich passiert. Erst recht als klar wurde, dass es sich um Kriegsverbrechen handelt, die dokumentiert werden müssen." Avdeeva sagt, dass es nun ihre Aufgabe sei, "gegen die russische Desinformation anzukämpfen und den wahren Stand der Dinge aufzuzeigen".
Das russische Militär bestreitet Angriffe auf zivile Objekte. Avdeeva geht an die Orte der Einschläge. Sie beschreibt, was sie sieht. So beispielsweise ein zerstörter Kindergarten - mitten in einem Wohnviertel.
Avdeeva betont die Bedeutung von Smartphones, mit denen jeder Videos aufnehmen kann. Dadurch könne jeder die Verbrechen sehen.
Misshandlungen von Gefangenen
Videos zeigen aber nicht nur mutmaßliche russische Kriegsverbrechen, sondern es kursiert auch ein Video, das ukrainische Soldaten zeigen soll, die russischen Kriegsgefangenen in die Beine schießen. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten zeigte sich besorgt und will es untersuchen lassen. Das fordert auch die UN-Mission. Denn die Misshandlung von Gefangenen ist ein Kriegsverbrechen.
Die BBC untersuchte das Video und stellte fest, es sei mutmaßlich in der Nähe von Charkiw aufgenommen worden, möglicherweise am 26. März. Ob das Material authentisch sei, sei zwar möglich, ließ sich bislang aber nicht sicher feststellen.
"Solche Einzelfälle gibt es. Aber bisher erkennen wir bei keiner der beiden Seiten ein System dahinter", sagt Ruslan Lewijew vom Conflict Intelligence Team. Das russische Kollektiv recherchiert inzwischen aus dem Exil und prüft aufwändig Informationen rund um den Krieg. Über Jahre haben sie Expertise und Erfahrungen gesammelt. "Was wir klar sehen", sagt Lewijew, "sind viele Fälle von Kriegsverbrechen seitens der russischen Streitkräfte, die mit fliehenden Zivilisten in Zusammenhang stehen. Mit Menschen, die versuchen Städte zu verlassen."
Lewijew konnte auch einen Fall überprüfen, bei dem in einem Wagen ein pensioniertes Ehepaar saß, das Ende Februar versucht hatte die Siedlung Makariv bei Kiew zu verlassen. Der Schuss eines russischen Panzers tötete sie auf der Flucht.
Ein russischer Panzer schießt laut Ruslan Lewijew auf einen PKW, in dem ein Ehepaar saß.
Parallelen zu Krieg in Syrien
Eine ähnliche Taktik werde in der Ukraine angewandt, sagt Lewijew: "Wir können sehen, dass dort jede Stadt praktisch dem Erdboden gleichgemacht wird." Bürgermeister solcher Städte erhielten Sprachnachrichten, in denen sie aufgefordert werden, die Städte zu übergeben und so das Blutvergießen zu beenden. "Die Situation in der Ukraine und in Syrien ist also in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich", meint Lewijew.
Die Analytiker des Teams sehen viele Parallelen zum Krieg in Syrien - sei es die Munition oder die Auswahl von Angriffszielen. So seien viele Bomben auf Städte abgeworfen worden, um die Bevölkerung in Panik zu versetzen und zur Flucht zu bewegen, erklärt Lewijew. Es sei zu einer humanitären Katastrophe gekommen, um Druck auf die Stadt- oder Bezirksbehörden auszuüben, die jeweilige Stadt an die russischen oder syrischen Behörden zu übergeben.
Russland und die "Krisen-Schauspieler"
Russland versucht zudem - ähnlich wie beim Krieg in Syrien - Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen als unglaubwürdig darzustellen. Nach dem Beschuss einer Geburtsklinik in Mariupol behaupteten russische Akteure unter anderem, es habe gar keinen Angriff gegeben, in der Klinik hätten sich ukrainische Milizen verschanzt oder auch: Bei Aufnahmen von Opfern habe es sich um inszenierte Bilder gehandelt.
Verschwörungslegenden über "Crisis Actors" tauchen seit Jahren auf. In den USA wurde Opfern von Anschlägen unterstellt, sie hätten Verletzungen nur vorgetäuscht. Im Zusammenhang mit Giftgaseinsätzen in Syrien behauptete Russland, es habe sich um Inszenierungen gehandelt.
Doch verschiedene Recherchen - unter anderem vom ZDF - haben die russischen Lügen über angeblich inszenierte Bilder von dem Angriff auf die Klinik widerlegt. Das Beispiel zeigt, wie umfangreich das Arsenal der Desinformation ist, um gezielt von Verbrechen abzulenken und die Öffentlichkeit zu verwirren - und wie wichtig es ist, das Geschehen zu dokumentieren und Aufnahmen zu prüfen.