Verschwörungsmythen und Popkultur Von Pillen, Masken und Illuminaten
Verschwörungsmythen und -theorien boomen, nicht zuletzt durch die sozialen Netzwerke. In der Popkultur gibt es sie aber schon lange. Von dort aus finden sie ihren Weg in die Wahrnehmung der Realität.
Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel, und ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, dass sie fiel, wie es schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen.
Die Abenteuer des Mädchens Alice im Wunderland hat ganze Generationen von Literaturwissenschaftlern beschäftigt, die Interpretationen des Buches von Lewis Caroll liefern Stoff für Mythen und Gerüchte. So bietet in dem Film "Matrix" die Figur Morpheus dem Protagonisten Neo an, zu zeigen, wie tief der Kaninchenbau wirklich ist - sofern dieser die rote Pille wählt, die ihn aus der Scheinrealität in die wahre Welt katapultiert.
Erweckungspillen für "Schlafschafe"
Damit schließt sich der Kreis des 1865 erschienenen Buchs "Alice im Wunderland" zu dem 2000 in die Kinos gekommenen Film. Beide liefern gleich mehrere der wichtigsten Symbole von aktuellen Verschwörungsmythen: Die rote Pille für den Erwachten, die blaue für den, der aus Furcht und Bequemlichkeit die Realität verleugnen und lieber ein "Schlafschaf" bleiben will. So teilen die selbsternannten Neos die Welt ein - und reklamieren für sich, die einzige Wahrheit über die Unterwelt des Kaninchenbaus zu kennen.
Ausgerechnet der Gott des Schlafes, Morpheus, beschert dem Programmierer Neo sein Erweckungserlebnis aus der Matrix.
"Schlafschafe", das sind für die angeblichen Anbieter der Erweckungspillen diejenigen, die wie die Paarhufer in George Orwells "Farm der Tiere" die offizielle Propaganda nachblöken und niemals widersprechen. Überhaupt gehört Orwell ebenfalls zu den beliebten Autoren der angeblich "Erwachten". Wie viele von ihnen die Fabel, eigentlich eine Allegorie auf die Februarrevolution und die nachfolgenden Ereignisse in Russland, oder den gerne zitierten Roman "1984" wirklich gelesen haben, ist offen. Vielleicht würde der eine oder andere sonst mehr Ähnlichkeiten der Protagonisten mit den neuen angeblichen Wissens- und Heilsbringern erkennen als mit denen, die sie bekämpfen.
Lieber einfach als richtig
Komplexität ist allerdings auch nichts für Verschwörungsmystiker: Alles wird binär in gut und böse, schwarz oder weiß beziehungsweise rot oder blau aufgeteilt. Symbole werden herausgelöst, fehl- und uminterpretiert, wie es gerade passt.
Ein Beispiel ist die Guy-Fawkes-Maske aus der 2005 erschienenen Comic-Verfilmung "V wie Vendetta": Sie wird heute weltweit als Symbol für den gewaltfreien Widerstand gegen das Establishment identifiziert - obwohl der reale Guy Fawkes durch seinen vereitelten Anschlag auf das britische Parlament eine Diktatur installieren wollte.
Von der Drogenphantasie zur Weltverschwörung
Auch der in die Jahre gekommene, 1998 verfilmte Drogenroman "Fear and Loathing in Las Vegas" von Hunter S. Thompson muss inzwischen als Basis für einen besonders perfiden Mythos herhalten: Darin wird Adenochrom, ein natürliches Abbauprodukt des Hormons Adrenalin, als potente Droge beschrieben.
Bei ihnen funktioniert Adrenochrom als Droge, wenn auch nicht mit der gewünschten Wirkung: Duke und Dr. Gonzo im Film "Fear and Loathing in Las Vegas".
Insbesondere im Umfeld der "QAnon"-Bewegung wird nun behauptet, politische, wirtschaftliche und kulturelle Eliten würden Kinder in unterirdischen Lagern halten, um aus ihnen diesen Stoff zu gewinnen. Wer so etwas glaubt, wird sich weder davon überzeugen lassen, dass der Stoff zwar keine der angenommenen Wirkungen zeigt, noch davon, dass jedermann ihn auch ohne Menschenopfer im Chemikalien-Fachhandel erwerben kann - und Thompson wohl selbst zugegeben hat, die Wirkung frei erfunden zu haben.
Mit dem Mainstream gegen den Mainstream
Ohnehin haben Verschwörungsmystiker keine Probleme, ihre Symbole und Philosophien aus der Kultur eben jenes Establishments zu entnehmen, das sie eigentlich bekämpfen. Ihre beliebtesten Quellen sind Popkulturwerke von Mainstream-Medienproduzenten. Umgekehrt können diese mit Verschwörungsmythen Kasse machen, wie beispielsweise die Filme und Romane von Dan Brown zeigen.
So versorgte die Film- und Fernsehserie "Akte X" gleich ganze Generationen mit Stoff für Verschwörungstheorien und hat es auch in ihrer kurzlebigen Neuauflage wieder geschafft, aus Fiktion Pseudorealität zu schaffen: Die Phantasien über gefährliche Zwangsimpfungen, Bevölkerungsreduktion, Organdiebstahl und DNA-Manipulation, alles mit Hilfe eines "tiefen Staates", werden in den entsprechenden Kreisen für echt gehalten.
Filme, die sich über Verschwörungstheorien lustig machen, wie zu Beispiel "Conspiracy Theory" oder die "Iron Sky"-Serie, erreichen dagegen nur ein Nischenpublikum.
Rapper als Grenzgänger und -verletzer
Auch in der Rapszene gehören Verschwörungsmythen zum Themenrepertoire. Ob Reptiloide, die flache Erde, Illuminaten, Bilderberger, kein Klischee wird ausgelassen, dabei Antisemitismus teilweise codiert oder kaum noch verschleiert artikuliert. Die Abgrenzung zwischen künstlerischer Freiheit, geplanter Provokation und ideologischem Aktivismus ist dabei fließend, verschiebt sich aber immer weiter. Sang Xavier Naidoo 2015 noch in Anspielung auf die angeblich so mächtige Rothschild-Familie vom "tonangebenden Baron Thotschild", ließ Kollegah den weltbeherrschenden Dunkelmann in seinem Video "Apokalypse" von 2016 mit einem Davidstern-Siegelring auftreten.
Aktuell fabuliert das eigentlich im Establishment angekommene Rap-Urgestein Ice Cube vom einer "Black Cube of Saturn"-Verschwörung, die er den Juden mit anlastet - und Naidoo, inzwischen zum wandelnden Multi-Verschwörer mutiert, erklärt auf seinem Telegram-Kanal dem Judentum, dass seine Zeit vorbei sei: "Jews of the World, don’t make the same mistakes as Angela Merkel. Know when the Gig is over."
Die armem Illuminaten!
Manchmal überleben Verschwörungsmythen ihre realen Vorbilder sogar um Jahrhunderte: So existierte der Illuminatenorden im Süddeutschland des späten 18. Jahrhunderts noch nicht einmal zehn Jahre - bis heute steht aber als Synonym für dunkle, elitäre Mächte mit sinistren Motiven, gerne auch in Kombination mit antisemitischen Feindbildern. Dafür sorgten Autoren wie Mary Shelley und Leo Tolstoi, aber vor allem eine Flut von Science-Fiction-Romanen, Filmen, Comics und Computerspielen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nicht wenige, die sich dem Kampf gegen die elitären Illuminati verschrieben haben, zumindest einigen Thesen ihres Gründers Adam Weishaupt durchaus zustimmen würden, wenn sie sie denn lesen würden: So kämpfte der rebellische Professor für Kirchenrecht mit seinen Illluminaten für Freiheit und Gleichheit und gegen geistige Bevormundung von oben an - bis die autoritäre Obrigkeit die Gruppe als die sinistre Truppe denunzierte, für die sie heute gehalten wird.