Wolodymyr Selenskyj spricht während einer Pressekonferenz auf dem Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz.
Kontext

Krieg gegen die Ukraine Warum Selenskyj weiterhin legitimer Präsident ist

Stand: 24.06.2024 10:47 Uhr

Prorussische Accounts behaupten, Selenskyj sei nicht mehr rechtmäßiger Präsident der Ukraine. Seine reguläre Amtszeit wäre zwar vorbei, doch im Krieg gelten international anerkannte andere Regeln - auch in Deutschland.

Von Elisabeth Kagermeier, Redaktion ARD-faktenfinder

Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich in Deutschland und der Schweiz zu Besuch war, war in den sozialen Medien Hochzeit für prorussische Accounts. Immer wieder war die Falschbehauptung zu lesen, Selenskyj wäre nicht mehr rechtmäßiger Präsident der Ukraine. "Seine Amtszeit ist zum 20. Mai beendet. Der ist also illegal im Amt", schreibt einer, "Putin wurde neu gewählt! Selenskyj nicht!" ein anderer in Bezug auf die Wahlen in Russland, die international als nicht unabhängig eingestuft wurden.

Reichweitenstarke deutsche Accounts auf YouTube oder TikTok greifen das Narrativ auf - und auch der russische Präsident Wladimir Putin zweifelt immer wieder Selenskyjs Recht an seinem Amt an. Was steckt hinter den Behauptungen? Und wie wäre die rechtliche Lage in Deutschland im Vergleich zur Ukraine?

Warum werden solche Behauptungen gerade jetzt verbreitet?

Das Narrativ, Selenskyj wäre unrechtmäßig im Amt, verbreite Russland schon lange, sagt Dietmar Pichler, Desinformations-Analyst des Disinfo Resilience Network. Früher mit der falschen Behauptung, Selenskyj hätte sich 2014 beim Euromaidan an die Macht geputscht, obwohl er damals noch kein Politiker war und erst 2019 Präsident wurde. Das geht auf das russische Narrativ zurück, dass alle ukrainischen Regierungen seit dem Euromaidan illegal wären.

"Aktuell verfängt dieses Narrativ, dass Selenskyj illegal im Amt wäre, sehr stark und wird extrem aggressiv propagiert", sagt Pichler. "Daran, dass es neben russischen Fakeprofilen auch reale Personen in Deutschland aufgreifen, merkt man: Diese Propaganda verfängt." Rechtsexperten sprechen von einer massiven russischen Desinformationskampagne mit dem Zweck, Selenskyj mit juristischen Scheinargumenten zu delegitimieren.

Dass ausgerechnet jetzt das Narrativ so stark gestreut werde, liegt laut Pichler einerseits daran, dass im Mai ohne den Angriffskrieg Russlands Selenskyjs erste Amtszeit geendet wäre - aber auch an Ereignissen wie der Friedenskonferenz in der Schweiz. "Die wollte man von russischer Seite sehr stark sabotieren", sagt Pichler. "Bei dieser Kampagne geht es ganz klar um das Publikum im Westen und um die Unterstützer."

Wie lange geht Selenskyjs Amtszeit laut ukrainischem Recht?

Die reguläre Amtszeit Selenskyjs ist am 20. Mai ausgelaufen - laut Verfassung genau fünf Jahre nachdem sie begonnen hat. Selenskyj hat sein Amt am 20. Mai 2019 angetreten. Normalerweise, wenn die Ukraine nicht von Russland angegriffen worden wäre, hätten laut Verfassung am letzten Sonntag im März 2024 die nächsten Wahlen stattgefunden.

Selenskyj ist aber trotzdem weiterhin rechtmäßiger Präsident, solange der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine andauert. Das liegt daran, dass das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, nach der russischen Invasion aufgrund des Kriegszustands das Kriegsrecht beschlossen hat. Es stimmt seitdem auch regelmäßig ab, ob das Kriegsrecht verlängert wird, da die Angriffe aus Russland weiter andauern.

Sowohl demokratisch als auch rechtsstaatlich sei das in der Ukraine "vorbildlich geregelt", sagt Otto Luchterhandt, Ostrecht-Experte und emeritierter Professor der Universität Hamburg. Denn das Parlament sei "voll in der politischen und verfassungsrechtlichen Verantwortung und Befugnis", weil es sowohl entscheidet, ob der Kriegszustand verhängt oder verlängert wird als auch über die genaue Dauer nach Tagen und Monaten.

Was genau gilt im Kriegszustand für Wahlen?

Im Kriegszustand gilt das ukrainische Kriegsrecht. Das wurde - anders als derzeit von prorussischen Accounts behauptet - nicht von Selenskyj beschlossen, sondern gilt in der heutigen Form seit 2015. Damals hat das ukrainische Parlament nach Russlands Annexion der Krim das Gesetz geändert, Präsident war damals Petro Poroschenko. "Das hatte mit Selenskyj 2015 überhaupt nichts zu tun", sagt Luchterhandt.

Während das Kriegsrecht herrsche, können Befugnisse nicht beendet werden, heißt es im Gesetz. Für das Parlament stellt die Verfassung explizit fest, dass die Macht verlängert wird, bis das Kriegsrecht aufgehoben ist, für den Präsidenten wird das im Kriegsrecht geregelt.

Dass die Amtszeiten weitergehen, solange der Krieg dauert, bedeutet laut Juristen auch, dass keine Wahlen stattfinden können. So werde die "Funktions- und Handlungsfähigkeit des Staates unter den Umständen des äußeren Notstands bewahrt", sagt Luchterhandt. Das ukrainische Parlament hat deshalb auch keine Wahl angesetzt.

Warum finden während Kriegen keine Wahlen statt?

Eine demokratische Wahl könne nur in einem friedlichen Zustand stattfinden, sagt Rechtsexpertin Caroline von Gall von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. "Die rechtlichen Grundsätze von demokratische Wahlen, wie sie die ukrainische Verfassung und auch internationale Standards fordern, können im Krieg nicht eingehalten werden."

Dazu zählt, dass Wahlen gleich, frei, allgemein und geheim sind, es möglich ist, sich über die verschiedenen Positionen in Medien und der Öffentlichkeit zu informieren sowie dass unabhängige Wahlbeobachter ins Land reisen können und ein friedlicher Ablauf eines Wahlvorgangs gesichert wird.

Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht wählen oder sich nicht wählen lassen können, würde das die Legitimität der Wahlergebnisse untergraben. Beispielsweise ist es laut von Gall problematisch, dass ein Großteil der Männer an der Front ist. Der Vorgang der geheimen Wahl mit Wahlkabinen und Wahlbeobachtern könne dort nicht ungehindert stattfinden und bei einem Angriff müsste die Wahl abgebrochen werden. Sie könnten sich auch nicht selbst zur Wahl stellen und Wahlkampf betreiben, während sie an der Front sind.

Und auch für die Zivilbevölkerung bestehe das Risiko, dass man aufgrund von Luftangriffen oder Beschuss nicht ins Wahllokal könnte. "Deshalb ist es ein international anerkannter Grundsatz, dass in einem Verteidigungsfall keine demokratischen Wahlen stattfinden können, zumindest nicht in einem Angriffskrieg derartigen Ausmaßes."

Wie sehen das die ukrainische Bevölkerung und Opposition?

Die ukrainische Opposition und die Mehrheit der Wahlberechtigten hält die Regelung derzeit für richtig. Im Parlament gibt es eine fraktionsübergreifende Vereinbarung, bis zum Ende des Kriegsrechts keine Wahlen abzuhalten. Und aus der Bevölkerung stimmten laut einer repräsentativen Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) von Anfang Juni 70 Prozent der Befragten zu, dass Selenskyj bis zur Beendigung des Kriegsrechts Präsident sein sollte. 22 Prozent stimmten nicht zu.

Der von prorussischen Kräften verbreitete Vorwurf, Selenskyj würde bewusst Wahlen verhindern, weil er sonst abgewählt würde, lässt sich aus seinen Umfragewerten so nicht bestätigen. Zwar sinken seine Zustimmungswerte im Vergleich zum Beginn des Krieges - im Mai 2022 vertrauten ihm 90 Prozent -, doch im Mai 2024 stand mit 59 Prozent deutlich über die Hälfte der Bevölkerung hinter ihm laut repräsentativen Umfragen. Zum Vergleich: Vor Kriegsbeginn im Februar 2022 vertrauten ihm 37 Prozent.

Rechtlich ist die Lage also klar und aus der Bevölkerung und Politik bekommt Selenskyj Rückhalt. Aber falls die Stimmung im Land kippen sollte, würde Selenskyj in einem "schwierigen politischen Dilemma" stecken, ob es trotz der nicht zu erfüllenden Standards im Krieg Wahlen geben sollte, sagt von Gall - auch wenn er weiterhin rechtlich legitim an der Macht wäre. Um die Ukraine zu destabilisieren, werden solche Narrative von prorussischer Seite deshalb auch in der Ukraine verbreitet, wie Desinformations-Analyst Pichler beobachtet.

Wie wäre es in Deutschland?

In Deutschland gibt es wie in vielen westlichen Staaten eine sehr ähnliche Regelung wie in der Ukraine für den Fall, dass Deutschland angegriffen würde. Während des Verteidigungsfalls, den Bundestag und Bundesrat beschließen müssten, ist die Auflösung des Bundestags ausgeschlossen. Wahlperioden enden erst sechs Monate nach Ende des Verteidigungsfalls, heißt es im Grundgesetz. Die Amtszeit des Bundespräsidenten würde erst neun Monate nach Ende des Verteidigungsfalls enden.

"In so einer Situation dürfen laut Grundgesetz gar keine Wahlen stattfinden. Auch internationale Standards fordern im Kriegsfall keine Wahlen", sagt Rechtsexpertin von Gall. In der Europäischen Menschenrechtskonvention ist sowohl das Recht auf freie Wahlen enthalten als auch die Möglichkeit, im Krieg von den Verpflichtungen abzuweichen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 20. Mai 2024 um 10:00 Uhr.