Attentat in Halle Die Gamifizierung des Terrors
Video und Dokumente des Halle-Attentäters deuten darauf hin, dass er Teil einer rechten Online-Parallelwelt war. Nach Einschätzung von Experten gehören ihr allein in Deutschland Zehntausende an.
Der mutmaßliche Attentäter von Halle lebte offenbar in der Parallelwelt rechter Internet-Foren, die voll sind von Hass, Rassismus, Verachtung für Frauen und Minderheiten. Julia Ebner vom "Institute for Strategic Dialogue" hat dafür eindeutige Hinweise: Zum einen das Video, das der Täter während des Anschlags machte und live im Internet streamte, zum anderen die Schrift des Attentäters, die er vor seiner Tat online gestellt hatte.
"Es scheint alles darauf hinzudeuten, dass er sich in diesen rechten, internationalen Subkulturen im Netz radikalisiert hat." Das erkenne sie an der Sprache und an Anspielungen auf Insider-Witze.
Ein rechter User hat offenbar eine ähnliche Haltung. Er kommentiert, Stephan B. sei ein Idiot. Ebner untersuchte die Kommentare und konnte auch in verschlüsselte Chats eindringen. Die Reaktionen auf die Tat seien "gemischt" gewesen. Die eine Hälfte hätte ihn als "Loser" kritisiert, die andere geradezu glorifiziert.
"Neue Art von Rechtsterrorismus"
Im Video spricht Stephan B. nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch. Er wollte also ganz bewusst Rechtsextremisten auf der ganzen Welt ansprechen. Diese reagierten auch mit Kommentaren in den Foren. Fast so, als würden sie einem Videospiel zuschauen. Das Besondere: Die Grenze zwischen Videospiel und realer Gewalt verschwimme hier, erklärt Ebner, die für ihr Buch "Radikalisierungsmaschinen" verdeckt in der Szene der rechten Foren recherchierte.
Für den Täter gehe es darum, von Gleichgesinnten virtuell Applaus zu ernten. "Eine neue Art von Rechtsterrorismus" sei das, so Ebner, eine "gamifizierte Art von Terrorismus". Stephan B. mag ebenfalls auf Anerkennung gehofft haben. Vermutlich wäre er gern zum Helden der Community geworden. Im Video zeigt er sich dann aber verärgert, dass seine selbstgebauten Waffen nicht so funktionieren, wie er sich das vorgestellt hatte. Er wollte also in Halle noch viel mehr als nur zwei Menschen töten.
Vorbild Christchurch
Vieles hatte sich Stephan B. offenbar vom Attentäter von Christchurch abgeschaut, der ebenfalls eine Schrift verfasste und ein Video von der Tat live streamte. Auffallend ist, dass Stephan B.s sogenanntes Manifest kürzer ist und sich teilweise liest, wie die Spielanleitung zu einem Videospiel. Zwar gibt es im Text noch die altbekannten Feindbilder, aber deutlich weniger ideologische Herleitungen. Die rechtsextremistische Ideologie scheint für den Attentäter von Halle offenbar nicht mehr so im Vordergrund zu stehen wie noch für den Attentäter von Christchurch.
Viele Mitglieder solcher Foren könnten gar nicht mehr unterscheiden, was Spiel und was Realität sei, so Ebner. Viele seien dann sogar schockiert, wenn sich ihre Äußerungen in den Foren plötzlich in Form von realen Terroranschlägen manifestierten, so Ebner.
"Häufig Männer in Identitätskrisen"
Ein klassisches Muster, wer sich in solchen Chats herumtreibt, gibt es offenbar nicht. "Alle Altersklassen, alle Bildungsschichten" - häufig seien es aber "Männer in Identitätskrisen", erklärt Ebner. Für die Sicherheitsbehörden stellt diese Szene eine enorme Herausforderung dar, auf die sie sich offenbar erst noch einstellen müssen.
Der Bundesinnenminister will die einschlägigen Foren nun "genauer in den Blick nehmen". "Man muss genau hinschauen, ob es noch ein Computerspiel ist, eine Simulation oder eine verdeckte Planung für einen Anschlag", so Horst Seehofer gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio. Das Problem sei sehr groß.
"Letztendlich geht es immer um die Verhöhnung der Opfer"
Ebner schätzt, dass es in Deutschland Zehntausende geben könnte, die sich in solchen rechten Foren tummeln. Weltweit seien es wohl Hunderttausende. Nicht alle seien waffen- und gewaltaffin. Die Hälfte etwa lehne dies sogar ab und wolle lieber auf politischer Ebene mit ihrer Ideologie vordringen.
Martina Renner von der Linkspartei widerspricht der These, die Inszenierung der Taten sei neu. "Letztendlich geht es immer um die Verhöhnung der Opfer. Heute werden die Taten live gestreamt. Der NSU fertigte Aufnahmen von den Tatorten und verbreitete diese in einem Bekennervideo."
Für die Ermittler ist noch nicht klar, ob aus den virtuellen Kontakten des mutmaßlichen Attentäters von Halle auch persönliche Begegnungen entstanden sind. Ob ihn also Rechtsextremisten in der realen Welt bei den Tatvorbereitungen geholfen haben. An der Vernetzung in der Gamerszene hingegen gibt es kaum noch Zweifel.
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