Fußball-Europameisterschaft War es das erhoffte Sommermärchen 2.0?
Während England und Spanien noch vom EM-Titel 2024 träumen, beschäftigen sich die Deutschen schon mit einer anderen Lieblingsdisziplin - dem Bilanzieren. War es nun das erhoffte Sommermärchen 2.0 oder nicht?
Das Sommermärchen 1.0, die Fußball-WM 2006 in Deutschland, ist vielen als ein grandioser Sommer in Erinnerung geblieben. Und der Sommer 2024? Wie werden wir auf ihn zurückblicken?
Ein falsches Maskottchen verschafft sich Zutritt zum Eröffnungsspiel, Kylian Mbappé schickt Wahlaufrufe nach Frankreich, Wasserfälle strömen vom Dortmunder Stadiondach. Schottische Fans trinken angeblich halb München leer und die Niederländer verwandeln Straßen in orangefarbene Flashmobs - wenn die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland eines sicher nicht war, dann langweilig.
Millionen Menschen verfolgten die EM
Wenn heute Abend im Berliner Olympiastadion das große EM-Finale zwischen Spanien und England den Turniersieger hervorbringt, werden insgesamt 51 Spiele unter 24 teilnehmenden Nationen in 10 deutschen Städten ausgetragen worden sein. Mehr als 2,5 Millionen Fans haben die Stadien besucht und unzählige Millionen die Spiele über diverse Medien verfolgt. Doppelt so viele Zuschauer auf MagentaTV wie bei der WM in Katar 2022, berichtet etwa die Telekom.
Das Interesse an der EM war riesig, auch noch nach dem bitteren Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Viertelfinale. Das Halbfinale England gegen die Niederlande verfolgten in der ARD über 15 Millionen Menschen. Stand jetzt, die höchsten Einschaltquoten eines Spiels ohne die DFB-Elf.
Dazu beigetragen hat sicherlich auch die große Sympathie für die niederländischen Fans. Wochenlang schwappten in Dortmund, München oder Leipzig orangefarbene Wellen durch die Straßen. Von links nach rechts und wieder zurück, verbreiteten sie eine sensationelle Stimmung in den Städten.
Nicht für alle Gastwirte ein Sommermärchen 2.0
Auf genau diese freudige, konsumanregende Stimmung während der EM hoffte vor allem das Gastro- und Hotelgewerbe. Nach den harten Corona-Jahren sollte ein neues Sommermärchen Aufschwung bringen. Der kam jedoch nicht bei allen. Eine Studie des Zahlungsabwicklers Mastercard belegt, dass in den Austragungsorten wie Dortmund, Düsseldorf, Köln und Stuttgart die Umsätze in Bars, Cafés und Restaurants teils dreistellig stiegen.
Doch Hamburg, Berlin und München konnten da zum Beispiel nicht mithalten. Insgesamt, das zeigt eine aktuelle Umfrage des Branchenverbands DEHOGA, konnten fast 90 Prozent der Hotellerie und Gastronomie ihre Umsätze durch die EM nicht steigern.
Ingrid Hartges, die Hauptgeschäftsführerin des DEHOGA Bundesverbandes, bleibt trotzdem positiv gestimmt: "Die EM ist auf jeden Fall ein wichtiger Impulsgeber zur Stärkung des Deutschlandtourismus. Die positiven Bilder und Berichte rund um die Spiele und ihre Austragungsorte werden definitiv nachwirken."
So blicken die Austragungsstädte auf die EM
Darauf hofft auch Gelsenkirchen. Im Vorfeld der EM hatten Recherchen von "Correctiv.Lokal" und "FragDenStaat" Zusatzkosten in Höhe von fünf Millionen Euro allein für Gelsenkirchen prognostiziert. Fanmeilen, Infrastruktur, Sicherheit - alles Kosten, die nicht die UEFA, sondern die Städte selbst tragen.
Zwar hätten Touristen in Gelsenkirchen im Schnitt 30 bis 150 Euro am Tag ausgegeben, doch die fließen in die Gastro oder den Handel, nicht in die Stadtkasse, so ein Sprecher. Einnahmen hätte die Stadt mit der EM nicht gemacht.
In München zeigt sich ein ähnliches Bild: Mehr als 500.000 Fans aus aller Welt waren zur EM in Bayern. Das Stadion war laut der UEFA immer ausverkauft und auch die Fan Zone am Olympiapark besuchten bislang über 600.000 Gäste.
Touristen hätten an den sechs EM-Spieletagen, so schätzt das Referat für Arbeit und Wirtschaft, insgesamt etwa 150 Millionen Euro in der Stadt gelassen. Ein Geschäft hat München damit aber nicht gemacht, sagt Bürgermeister Dieter Reiter. Er will sich noch nicht festlegen, aber "ein paar Millionen hat es schon gekostet".
Reiter nimmt es dennoch leicht, schließlich habe die Stadt schon teurere Tourismus-Werbeevents gehabt. Für Reiter geht es ohnehin um mehr als Geld. Völkerverständigung und ein positives Lebensgefühl zum Beispiel - und das habe die EM geschafft.
Besonders die Schotten haben es den Münchnern angetan. So viel Trinkfestigkeit und gute Laune trotz des verlorenen Eröffnungsspiels. Das kommt bei den Bayern gut an.
Nahverkehr am Limit
Wegen seines öffentlichen Nahverkehrs erlangte Gelsenkirchen während der EM eine gewisse Bekanntheit. Unter anderem hatte sich Paul Brown, ein britischer Blogger, in einem Video über das "Gelsenkirchen shithole" beschwert.
Vor allem über die Überlastung der öffentlichen Verkehrsmittel wurde sich im Netz beschwert. Die Stadt dementierte allerdings lange Wartezeiten und Chaos.
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) bilanziert nach vier Wochen EM: "Es fuhr alles, was Räder hat". So seien in Frankfurt pro Tag 100.000 Reisende mehr als sonst am Hauptbahnhof. An Spieltagen seien die S-Bahnen rund 300 Mal zum Stadion gefahren.
In Leipzig fuhren die Verkehrsbetriebe pro Spiel bis zu 5.000 Kilometer mehr als üblich. Der Verband nutzt seine Bilanz und fordert mehr Investitionen in die Branche: "Wir sind am Limit. Das System stößt vielfach an seine Kapazitätsgrenzen, der schlechte Zustand der Infrastrukturen sorgt bei punktuell erhöhter Nachfrage für ein störungsanfälliges Gesamtangebot. Es fehlt an Fahrzeugen und Personal."
Das nachhaltigste Turnier der Geschichte?
Das Verlagern der Infrastruktur auf Busse und Bahnen, war ein wesentlicher Punkt im Nachhaltigkeitskonzept der UEFA für die EM in Deutschland. Es sollte das nachhaltigste Turnier aller Zeiten werden. Deshalb wurden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Umweltbelastung zu minimieren, darunter Recycling-Initiativen und der Einsatz von Ökostrom in den Stadien.
Die Deutsche Umwelthilfe zieht jedoch eine eher kritische Turnierbilanz: Die EM habe zwar gezeigt, dass Nachhaltigkeit umsetzbar sei, man müsse aber noch ein paar Schritte mehr gehen, sagt Geschäftsführerin Barbara Metz. Neben der Mehrwegbecher in den Stadien und Fanzonen hätte es mehr Angebote dieser Art geben können. Auch die Kurzstreckenflüge mancher Nationalmannschaften seien nicht nachhaltig gewesen.
Die politische EM
Für Fußballverhältnisse war die EM auch politisch aufgeladen. Debatten wie der Wolfsgruß türkischer Fans führten zu diplomatischen Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei.
Auch die französischen Spieler, allen voran Superstar Kylian Mbappé, engagierten sich politisch und riefen dazu auf wählen zu gehen, um einen Sieg des Rassemblement National in Frankreich zu verhindern.
Ende gut, alles gut
Am Ende überwiegen jedoch die positiven Bilanzen zur EM. Die Stimmung im Land wird von vielen als entspannt und fröhlich beschrieben, die deutsche Mannschaft hat alle in ihren Bann gezogen.
Das pink-lila Trikot sei das am besten verkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte aller DFB-Trikots, freut sich Adidas in seiner Bilanz. Besonders häufig werde die Variante mit der Rückennummer 8 von Champions-League-Sieger Toni Kroos geordert. Aber auch die Namen und Rückennummern des DFB-Duos "Wusiala", also Jamal Musiala und Florian Wirtz, seien sehr beliebt.
Die beiden Jungstars gehören zu den größten Gewinnern im Kader bei der Heim-EM. Und dieser Kader hat überzeugt. Turnierdirektor Philipp Lahm zeigte sich positiv überrascht von der deutschen Auswahl, der er dank Julian Nagelsmann eine große Zukunft zutraut.
Auch Bayern Münchens Ehrenpräsident Uli Hoeneß ist begeistert. "Sie sind auf einem guten Weg. Und im Gegensatz zur WM in Katar stand endlich wieder der Fußball im Mittelpunkt", sagte Hoeneß dem "Kicker". Das Land sei wieder zuversichtlicher geworden. "Dafür hat die Nationalmannschaft mit ihrem Auftreten gesorgt."
Eine Einschätzung, die auch Bundestrainer Nagelsmann teilt. Sein bemerkenswert staatsmännischer Auftritt zur Abschlusspressekonferenz in Herzogenaurach wird vielen im Gedächtnis bleiben. Denn er schafft es, den großen Bogen zu spannen, zwischen Fußball und der Wirkung, die dieser Sport auch gesellschaftlich entfalten kann.
Sein Wunsch: Dass die positive Sommerstimmung rund um die Nationalmannschaft jetzt auch im Alltag fortgetragen wird. "Ich glaube, wir können alle anpacken, dass es nicht so traurig ist, wie es gerade wirkt und nicht alles schwarz gemalt werden muss, wie es gerade schwarz gemalt wird. Man kann immer Probleme sehen - und wir haben Probleme im Land. Man kann aber auch immer von Lösungen sprechen."