Einer weinende Frau sitzt vor einem zerbrochenen Spiegel.
interview

Häusliche Gewalt "Wir haben einen tief sitzenden Frauenhass"

Stand: 07.06.2024 17:10 Uhr

Auch im vergangenen Jahr ist die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland gestiegen. Das liege auch daran, dass die Bekämpfung dieser Gewalt keine politische Priorität habe, sagt Rechtsanwältin Christina Clemm.

tagesschau.de: Wie oft bereitet Ihnen Ihr Beruf schlaflose Nächte?

Christina Clemm: Ich glaube, die größte Katastrophe in meinem Beruf könnte sein, dass tatsächlich irgendwann eine Mandantin von mir ermordet wird. Das bereitet mir durchaus manchmal schlaflose Nächte.

Erstaunlicherweise ist dieser Beruf auch in vielen Fällen sehr gut, denn es ist großartig, miterleben zu dürfen, wenn Frauen sich aus diesen gewalttätigen Beziehungen befreien können.

Zur Person

Christina Clemm ist Rechtsanwältin für Familienrecht, hat schon Hunderte Fälle begleitet und Opfer von häuslicher Gewalt vor Gericht vertreten.

tagesschau.de: Ist Ihnen ein Fall in Erinnerung, bei dem Sie sagen würden: Der ist ganz typisch für häusliche Gewalt in Familien, die bei uns in Deutschland leben?

Clemm: Das ist schwierig. Alle Fälle sind immer wieder anders. Was typisch ist: dass Frauen sehr häufig sehr viel Zeit, Ruhe und auch Sicherheit brauchen, um sich trennen zu können. Es ist in meiner Praxis auch immer wieder so, dass Frauen zurückkehren, weil sie nicht genügend Schutz oder keine Perspektive erhalten.

Mir sind durchaus Fälle sehr präsent, in denen Frauen Schutz gesucht haben, bei der Polizei oder bei anderen Organisationen, die zum Beispiel keinen Platz im Frauenhaus gefunden haben. Und die am Ende massiv angegriffen, verletzt oder sogar es dann versuchte Tötungsdelikte gab.

"Es mangelt an Schutzraum", Rechtsanwältin Christina Clemm zu Häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen

tagesschau24, 07.06.2024 14:00 Uhr

tagesschau.de: Es mangelt oft auch an Schutzraum.

Clemm: Es mangelt an Schutzraum. Wir haben in Deutschland die sogenannte Istanbulkonvention, also die Konvention gegen Gewalt gegen Frauen, schon lange ratifiziert. Da gibt es eine klare Vorgabe, wie viele Frauenhausplätze wir eigentlich benötigen. Die haben wir noch lange nicht in Deutschland.

Es werden immer wieder Frauen abgewiesen, die Schutz suchen. Wir haben nicht genügend Schutzwohnungen, wir haben nicht genügend Beratungsstellen in der Fläche. Es mangelt tatsächlich auch an Schutz.

tagesschau.de: Woran liegt das aus Ihrer Sicht? Warum wird da gespart?

Clemm: Das kann man sich fragen. Ich würde sagen, das Thema geschlechtsspezifische Gewalt ist immer noch ein Thema, das zwar eine Öffentlichkeit erlangt. Wir haben immer, wenn das neue polizeiliche Lagebild veröffentlicht wird, große Bestürzung.

Aber es ist einfach noch nicht wirklich auf der politischen Agenda. Nicht in der Form, dass man sagen würde: Es ist eines der prioritären Ziele der Politik, tatsächlich geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern.

tagesschau.de: Aber woran liegt das? Weil die Politik nach wie vor männlich dominiert ist? Oder haben Sie da noch andere Vermutungen?

Clemm: Wir haben noch lange keine Gleichstellung in diesem Staat. Wir haben zwar feministische Bewegungen, wir haben auch viel erreicht in Bezug auf Gleichstellung. Aber ich würde sagen, wir haben einen tief sitzenden Frauenhass, also eine alltägliche Verachtung von Frauen, die schon früh beginnt. Also ungleichwertige Betrachtungsweisen von Frauen und Männern und anderen Geschlechtern.

Und in dem Moment, in dem emanzipatorische Ziele erreicht werden, fühlen sich viele Männer dann auch sofort gleich hintenangestellt oder ungleichberechtigt, obwohl wir noch lange keine Gleichstellung haben. Letztlich leben wir in einem patriarchalen System, dass in letzter Konsequenz auch Gewalt zulässt.

tagesschau.de: Was ist dran an Vorurteilen, so etwas komme vielleicht häufiger in nichtdeutschen Haushalten vor?

Clemm: Da ist nichts dran. Hier ist ja häusliche Gewalt das Thema. Wenn wir aber über die Unterform der partnerschaftlichen Gewalt sprechen, dann haben wir auch noch mal eine andere Verteilung. Dann sind 80 Prozent der Opfer Frauen und 20 Prozent Männer. Es kommt in allen Schichten, bei allen Herkünften vor.

Die Anzeigebereitschaft ist möglicherweise etwas höher bei Menschen, die eine Einwanderungsgeschichte haben, weil sie auch schneller auch von außen angezeigt werden. Also nehmen wir mal eine Betroffene, die in einer Geflüchtetenunterkunft lebt. Da gibt es auf sehr viel engerem Raum andere Personen, die dann anzeigen.

Ich kann aus meiner Praxis sagen: Von der Topmanagerin bis zur Frau, die arbeitslos auf der Straße, oder die Studentin oder die Frau, die im Einfamilienhaus am Stadtrand lebt - ich habe schon alle Frauen aus allen Schichten und Herkünften vertreten.

tagesschau.de: Was fordern Sie jetzt von der Politik? Ist das ganze Thema mit der Verschärfung von Strafen erledigt?

Clemm: Nein. Die Verschärfung von Strafen bringt überhaupt gar nichts. Wir haben Straftatbestände, die völlig ausreichen, wenn man sie mal anwenden würde.

Wenn man über die Strafverfahren nachdenkt, brauchen wir schnellere, bessere Ermittlungen. Das hängt auch sehr viel an mangelnden Kapazitäten und an einer mangelnden Schwerpunktsetzung der Kriminalitätsbekämpfung. Dass wir so langsame, langwierige Verfahren haben und dass immer noch die Gefahr für die Frauen bagatellisiert wird. Das ist die eine Schiene.

Die andere Schiene ist aber: Strafrecht wird niemals das Problem lösen können. Strafrecht bedeutet ja immer nur, dass man repressiv handelt, nachdem eine Tat geschehen ist.

Wir brauchen viel mehr Prävention. Wir brauchen ordentliche Täterarbeit. Wir brauchen Aufklärung. Wir brauchen Kampagnen, die endlich über aggressive Männlichkeit sprechen. Wir müssen in der Erziehung anfangen. Und es muss wirklich ganz hoch auf die politische Ebene gestellt werden. Zu sagen: Wir dulden eine Gesellschaft nicht, in der es so viel geschlechtsspezifische Gewalt gibt.

Das Gespräch führte André Schünke, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 07. Juni 2024 um 14:00 Uhr.