Angeklagt ohne Verteidiger Hilflos vor dem Richter
Viele mittellose Angeklagte landen nur deshalb im Gefängnis, weil sie sich keinen Anwalt leisten können. Justizminister Buschmann zeigt sich gegenüber der ARD erstmals offen dafür, den Anspruch auf Pflichtverteidigungen auszuweiten.
Es ist ein kurzer Prozess, das Delikt klar: Marcel S. ist dreimal ohne Fahrschein in der U-Bahn erwischt worden. Nur wenige Minuten sieht der Sitzungsplan von Richterin Anja Grund am Bereitschaftsgericht in Berlin-Tempelhof vor, dann steht das Urteil fest: 1350 Euro Geldstrafe. Eine Strafe, die Marcel S. wohl nie bezahlen kann und die er deshalb möglicherweise im Gefängnis absitzen muss - mit einer Ersatzfreiheitsstrafe.
Ein Anwalt hätte vielleicht einen Weg gefunden, diese Strafe zu vermeiden. Aber Marcel S. hatte keinen Anwalt - so, wie die meisten der Angeklagten am Bereitschaftsgericht ohne rechtlichen Beistand auskommen müssen. Ein Pflichtverteidiger wird in solchen scheinbar einfachen Fällen nur selten vom Gericht bestellt. Ein Anspruch besteht nur in Verfahren, bei denen eine Haftstrafe von mehr als einem Jahr droht oder wenn der Angeklagte besondere Einschränkungen wie eine Hörbehinderung hat.
Marcel S. muss möglicherweise ins Gefängnis - weil er sich keinen Fahrschein leisten konnte.
Armut wird aus Scham verschwiegen
In der ARD-Doku "Arm und Reich vor Gericht" gibt Richterin Grund offen zu, dass sie bei 15 Verfahren am Tag den Betroffenen kaum gerecht werden kann. Diese Schnellverfahren seien ein "Massengeschäft".
Unter den Angeklagten seien viele Rentnerinnen und Rentner, die zum ersten Mal bei einem Ladendiebstahl erwischt wurden: "Die Leute haben schon kein Geld, und dann sollen sie auch noch hohe Geldstrafen abzahlen. Für Taten, die letztendlich einen Schaden von zehn Euro angerichtet haben", sagt die Richterin.
Richterin Anja Grund muss am Bereitschaftsgericht in Berlin-Tempelhof über 15 Schnellverfahren am Tag entscheiden.
In solchen Fällen ist der reine Sachverhalt oft unstrittig. Ein Verteidiger könnte aber Gründe vorbringen, die zu einem milderen Urteil führen würden. Und vor allem würde er verhindern, dass viele Angeklagte ihre Armut aus Scham verschweigen. Denn die Höhe der Tagessätze einer Geldstrafe richtet sich nach dem Einkommen - und wird vom Gericht meist nur geschätzt.
"Viele Angeklagte reden sich um Kopf und Kragen, gerade weil sie einen guten Eindruck machen und nach außen nicht eingestehen wollen, dass sie nicht einmal das Nötigste zum Leben haben", sagt Journalist Ronen Steinke, der für das Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" mit vielen Angeklagten und Richtern gesprochen hat. Wenn diese Menschen die deshalb oft viel zu hoch geschätzte Geldstrafe nicht zahlen können, können sie mit einer Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis kommen.
Immer mehr Urteile ohne Verteidigung
In jeder dritten Gerichtsverhandlung sitzen die Angeklagten in einer für sie fremden Welt der Justiz allein vor Staatsanwaltschaft und Richter. Dabei landen die meisten Verfahren gar nicht mehr im Gerichtssaal. In 60 Prozent der Fälle kommt das Urteil ohne Verhandlung mit der Post - als Strafbefehl. Der wird von der Staatsanwaltschaft vorbereitet und von einem Amtsrichter oft nur noch oberflächlich geprüft und unterschrieben.
Das entlastet die Gerichte, ist aber fehleranfällig, wie die Hamburger Amtsrichterin Lena Dammann offen einräumt: In einer Verhandlung müsse sie "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" von der Schuld der Angeklagten überzeugt sein, beim Strafbefehl reiche ein "hinreichender Tatverdacht".
Wer sich einen Anwalt leisten kann und rechtzeitig Widerspruch einlegt, hat deshalb gute Aussichten, dass ein Strafbefehl korrigiert wird. Mittellose Beschuldigte seien dagegen oft auch "Menschen, die intellektuell nicht so in der Lage sind, nachzuvollziehen, was da eigentlich geschrieben wird", meint die erfahrene Juristin. Sobald Einspruchs- und Zahlungsfrist aber überschritten sind, wird die Geldstrafe automatisch in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt.
Hohe Haftkosten
In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee sitzt die Hälfte der rund 500 Gefangenen allein aus dem Grund, dass sie ihre Geldstrafe nicht zahlen konnten. Das ist teuer, denn ein Haftplatz kostet je nach Bundesland rund 175 Euro am Tag. Ein Ladendiebstahl mit zehn Euro Schaden kann deshalb bei 30 Tagen Haft zu Kosten von über 5200 Euro führen.
Bundesweit kosten die Ersatzfreiheitsstrafen die Steuerzahlenden pro Jahr mehr als 200 Millionen Euro. Uwe Meyer-Odewald, Anstaltsleiter in Plötzensee, kritisiert die Ersatzfreiheitsstrafen aber nicht nur aus finanziellen Gründen. "Diese Leute gehören hier nicht her. Sie müssen außerhalb der Mauern an die Hand genommen werden, um ihr Leben zu ordnen", sagt er.
Buschmann will Pflichtverteidigung stärken
Die Bundesregierung hat das Problem zwar erkannt und einen Reformvorschlag auf den Weg gebracht. Doch der zielt lediglich darauf ab, die Ersatzhaft zu halbieren. Im ARD-Interview geht Justizminister Marco Buschmann nun darüber hinaus: Man könne darüber diskutieren, ob man die Fälle der Pflichtverteidigung ausweite. "Das muss man sich im Detail anschauen", so der FDP-Politiker. Das wäre allerdings wohl mit erheblichen Kosten verbunden.
Ein Verteidiger hätte möglicherweise auch Marcel S., dem Verurteilten am Berliner Schnellgericht, gut getan. Denn er hätte geltend machen können, dass das wiederholte Fahren ohne Fahrschein aus einer Not entstanden ist: S. ist seit einiger Zeit wegen seiner Drogenabhängigkeit in ärztlicher Behandlung.
Das Monatsticket für den täglichen Weg quer durch Berlin zum Arzt konnte er sich nicht immer leisten. So wurde er beim Fahren ohne Fahrschein zum Wiederholungstäter - und die Strafen wurden immer höher. Ein guter Anwalt hätte mit dem Gericht wohl einen Ausweg aus dieser Spirale gesucht.
Die ARD Doku "Arm und Reich vor Gericht" läuft heute Abend um 22.50 Uhr im Ersten.