Polizeiliche Kriminalstatistik "Schulen haben eine ganz große Aufgabe"
Die Kriminalstatistik zeige nur einen Teil des Bildes, sagt der Kriminologe Boers. Zur Beurteilung der Lage fehlten noch wichtige Zahlen. Für die Prävention besonders wichtig seien die Integrationsmöglichkeiten an Schulen.
tagesschau24: Wir sehen einen deutlichen Anstieg der Straftaten in der neuen Kriminalstatistik. Sind die Zahlen alarmierend?
Klaus Boers: Das würde ich nicht sagen, weil wir im Grunde in den letzten zwanzig Jahren in allen westlichen Ländern einen massiven Rückgang haben - sowohl der Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität, als auch der Kriminalitätsfurcht.
Polizeidaten sind ein Teil, den wir benutzen, um ein Kriminalitätslagebild zu erstellen. Hinzu kommt das Dunkelfeld - die Zahlen fehlen uns. Wir kriegen erst Ende des Jahres einigermaßen verlässliche Dunkelfeld-Zahlen, um die Situation zu beurteilen. Wir haben jetzt etwa das Niveau, das wir 2017 hatten.
Klaus Boers ist Kriminologe an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Jugendkriminalität.
tagesschau24: Insgesamt sind die Zahlen also auf einem niedrigen Niveau?
Boers: Sie sind von einem niedrigen Niveau angestiegen. Der Anstieg ist innerhalb der Polizeidaten recht deutlich, aber wir müssen uns ansehen, ob sich das auch im Dunkelfeld so widerspiegelt.
"Mehr Menschen, mehr Kriminalität"
tagesschau24: Der Anteil der Ausländer an den Straftätern ist angestiegen. Wie schätzen Sie das ein?
Boers: Zunächst sind allein im letzten Jahr eine Million Menschen zu uns gekommen. Und dann ist es grundsätzlich so: mehr Menschen, mehr Kriminalität.
Dass die ausländischen Tatverdächtigen stärker belastet sind, sieht man in Dunkelfeld-Daten, die wir haben, sowie auch in den Polizeidaten, also dem Hellfeld. Die haben eine höhere Belastung als Deutsche. Aber man muss jetzt Folgendes sehen: jung, männlich, sozial nicht eingebunden - dann haben Sie auch eine höhere Kriminalitätsrate unter Deutschen.
Migration ist für Kriminologen an sich gar kein Grund. Es ist ganz einfach: Wenn Sie Einwanderer aus Skandinavien haben, aus wohlhabenderen Schichten oder aus Ostasien, dann haben Sie weniger Kriminalität. Das gleiche gilt auch, wenn Sie Einwanderer aus der Türkei haben, die aus der Mittel- und Oberschicht kommen. Das Problem ist, dass wir sehr stark Armutskriminalität haben und Leute, die aus benachteiligten Schichten kommen.
"Ich wäre vorsichtig mit schnellen Ratschlägen"
tagesschau24: Sie sagen, Ausländer hätten eine höhere Belastung. Was genau meinen Sie damit?
Boers: Wir haben ja keine ganz genauen Zahlen über die Kriminalität von Nichtdeutschen. Aber der Tatverdächtigenanteil ist im Vergleich mit dem Tatverdächtigenanteil der Deutschen doppelt so hoch.
tagesschau24: Die politische Debatte, was jetzt zu tun ist, ist längst entbrannt. Zum Beispiel, ob gegen Zuwanderung härter vorzugehen ist. Was würden Sie der Politik raten?
Boers: Vor dem Hintergrund, dass wir vielleicht mal noch die Entwicklung etwas genauer abwarten sollten, wäre ich vorsichtig mit schnellen Ratschlägen. Zumindest, was das Jugendstrafrecht angeht, die Jugendstrafverfolgung - da spielen sich ja die hauptsächlichen Dinge ab - sind wir eigentlich gut aufgestellt, auch die Gesellschaft.
Wir haben eine ganze Menge gelernt, was Integration angeht. Ein Problem ist natürlich die große Zahl. Man stößt an Grenzen, was die sozialen Integrationsmöglichkeiten angeht. Das betrifft insbesondere die Schule. Ich finde, man sollte ein Auge darauf haben, dass wir Steigerungsraten bei den Kindern haben.
Kinder werden jetzt offenbar häufiger angezeigt. Und wenn man das in Zusammenhang bringt damit, dass wir Klassen haben, in denen acht oder neun Sprachen gesprochen werden, mit Schülern aus unterschiedlichen Kulturen, dann ist das eine große Herausforderung.
"Polizeidaten sind nicht die besten Daten"
tagesschau24: Wenn Sie es ganz konkret machen müssten: Was muss besser laufen?
Boers: Ich würde vor allen Dingen darauf achten, dass wir in den Schulen genügend Integrationspotenziale haben. Dort werden für das kriminologisch relevante Alter - also 12 bis 16 - die entscheidenden Normen und Werte vermittelt. Also prosoziale Einstellungen und Normen, Umgang mit Konflikten. Und da haben Schulen eine ganz große Aufgabe. Wenn sie die nicht erfüllen können, kriegen wir ein Problem.
tagesschau24: Müssen wir uns darauf einstellen, dass Kriminalität jetzt in Zukunft von Jahr zu Jahr zunehmen wird?
Boers: Das ist Kaffeesatzleserei. Wer soll das wissen? Polizeidaten sind nicht die besten Daten, die man haben kann zur Kriminalitätsbeurteilung. Wir haben jetzt zwei Jahre, in denen wir das beobachten. Der langfristige Trend ist abwärts gewesen. Der ist auch historisch abwärts, insbesondere was Gewaltdelikte angeht.
Ich würde sagen: Jetzt mal in Ruhe abwarten, die Lage analysieren, sehen, wo Problembereiche sind. Dass Menschen versuchen, die Zahlen für ihre Programme zu nutzen ist nichts Neues. Kriminalitätszahlen sind auch immer politische Zahlen.
Wir sind insgesamt in Deutschland auch mit unserem Strafrecht, der Jugendhilfe, der Polizei, der Gesellschaft und unseren Integrationsmöglichkeiten nicht schlecht aufgestellt, um mit solchen sozialen Problemen umgehen zu können.
Das Gespräch führte Sandra Rieß. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.