Politologe zur EU-Wahl "Die Grünen mussten eigentlich wenig tun"
"Fridays for Future", YouTuber-Kritik, Urheberrecht: Die Großparteien haben bis zuletzt nicht verstanden, was vor sich geht, sagt Politologe Maurer im Interview mit tagesschau.de. Die Grünen wussten dies am besten zu nutzen.
tagesschau.de: Herr Maurer, machen die Grünen gerade so viel richtig - oder die Großparteien einfach nur alles falsch?
Andreas Maurer: Die Grünen mussten in dem Wahlkampf eigentlich wenig tun. Die "Fridays-for-future"-Bewegung, die Urheberrechtsreform und die Entscheidungen zum Freihandelsabkommen mit Japan waren Themen, die den Grünen in die Hände spielten. Sie haben zudem vor allem davon profitiert, dass viele junge Menschen zur Wahl gingen.
Andreas Maurer lehrt seit 2013 als Professor für Politikwissenschaft und Europäische Integration an der Universität Innsbruck. Zuvor leitete er an der Stiftung Wissenschaft und Politik die Forschungsgruppen Europäische Integration und Europäische Außenbeziehungen sowie das Brüsseler Verbindungsbüro. Er ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für europäische Integrationforschung.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich das?
Maurer: Es hat sich sicherlich bemerkbar gemacht, dass diesmal nicht nur die Europäische Union als Institution in einer Kampagne für sich geworben hat. Stadtverwaltungen, Schulen, Universitäten und Fachhochschulen haben massiv junge Wähler und Erstwähler mit Diskussionsveranstaltungen und Seminaren direkt angesprochen. Das hat sich offensichtlich ausgezahlt. Dazu kommen Bewegungen wie "Fridays for Future" und YouTuber wie Rezo, die sich erstmals dezidiert parteipolitisch äußerten. Das ist neu, dass auf YouTube jemand dazu aufruft, eine ganz bestimmte Partei nicht zu wählen und dies auch noch ausführlich begründet. Dieses Phänomen sprach die Jugendlichen offensichtlich an.
Die großen Blöcke haben bis zuletzt nicht verstanden, was da eigentlich vor sich geht. Die Grünen mussten ihren Wahlkampf hingegen gar nicht verändern, da Klimaschutz ja ihr klassisches Thema ist.
tagesschau.de: Warum fällt es Großparteien so schwer, auf solche Phänomene zu reagieren?
Maurer: Viele politische Parteien führen den Europawahlkampf vor allem als nationalen Wahlkampf. Besonders deutlich wurde dies, als Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrem ersten Statement nach der Wahl sagte, dass Manfred Weber Kommissionspräsident werde, um die deutschen Interessen zu vertreten. Da hat jemand offensichtlich nicht verstanden, worum es im Europäischen Parlament und der Kommission geht.
Ähnlich ist es auch bei der SPD, die die Europawahl vor allem mit nationalen Themen verknüpfte wie etwa der GroKo, der Bundesregierung oder den anstehenden Landtagswahlen. Hier haben es die Grünen, aber auch die Rechtsextremen einfacher. Sie lassen sich nicht so sehr von nationalen Themen treiben. Sie haben längst verstanden, dass sie mit ihrer Agenda sehr viel erfolgreicher über die europäischen Bande spielen können. Dort können sie viel einfacher Mehrheiten bündeln als im nationalen Rahmen.
tagesschau.de: Was heißt das?
Maurer: In den nationalen Parlamenten sind Parteien wie die Grünen zur Oppositionspartei verdammt, die bestenfalls die Regierung kontrollieren kann. Im europäischen Parlament bleiben die Grünen zwar eine kleine Partei. Trotzdem sind sie aufgrund der Struktur des Parlaments in der Lage, die Agenda in wesentlichen Teilen zu bestimmen: etwa über das Berichterstatterwesen, über die Tatsache, dass vieles in den Ausschüssen läuft und dass die Mehrheiten wechselnd sind. Davon profitieren proeuropäische Parteien wie die Grünen massiv - und können dies auch als Botschaft an die Jungwählerschaft transportieren.
tagesschau.de: Trotz des Erfolgs in Deutschland bleiben die Grünen in anderen EU-Ländern relativ schwach.
Maurer: So schwach sind sie nicht. In Frankreich, in den Niederlanden, in Belgien sind sie auf dem aufsteigenden Ast. Selbst in einigen osteuropäischen Ländern können sie langsam Fuß fassen. Früher waren sie froh, wenn sie die Zahl der Mandate halten konnten. Diesmal gewinnen sie zwischen zehn und 15 Sitze hinzu. Das ist eigentlich nicht schlecht. Die klassischen Länder Südeuropas bleiben für die Grünen aber weiterhin ein schwieriges Terrain.
tagesschau.de: Sind die Grünen in Deutschland auf dem Weg zur neuen Volkspartei?
Maurer: Sie haben die Schmuddelecke längst verlassen und formulieren inzwischen ein seriöses Wahlangebot, das auch für eine Wählerschaft interessant sein kann, die bisher christdemokratisch oder liberal gewählt hat. Das macht sie zur alternativen bürgerlichen Mitte-Partei, die auch das Zeug hat, in ein Rennen um den Kanzlerkandidaten zu gehen.
Die deutsche Sozialdemokratie hat ganz offensichtlich keine Idee mehr davon, wie sie die EU und die Bundesrepublik in die digitale Zeit einer postnationalen Gesellschaft führen will. Sie ist pausenlos mit sich selbst beschäftigt und reagiert nicht darauf, was die Menschen auf der Straße beschäftigt.
tagesschau.de: Die Rechten haben aber in der EU deutlicher zugelegt.
Maurer: Es ist extrem beunruhigend, dass in zwei großen EU-Gründerstaaten - Frankreich und Italien - die Rechtsextremisten die stärkste Partei bilden. Das wird sich vielleicht nicht unbedingt bei der Frage des Kommissionspräsidenten abbilden, aber es wird massive Folgen für den internen Aufbau des europäischen Parlaments mit dem Parlamentspräsidenten und 14 Vizepräsidenten haben. 2014 konnten die Rechtsextremen noch blockiert werden.
Aber diesmal wird das Parlament nicht umhin kommen, bei den Vizepräsidenten und der Ausschussvorsitzenden, den einen oder anderen Rechtsradikalen ins Amt zu heben. Sie können die Agenda nicht allein bestimmen, aber sie können die EU durcheinander bringen und immer wieder stören. Das wird ein großes Problem, da es das Europäische Parlament arbeitsunfähiger macht. Davon profitieren die Mitgliedsstaaten, die mit einem schwachen Parlament sehr viel einfacher arbeiten können.
tagesschau.de: Bei den Landtagswahlen im Herbst im Osten droht den Grünen ein Rückschlag ...
Maurer: … das sind auch andere Wahlen. Wenn Fragen wie die Umwelt- und Klimapolitik so gespielt werden, wie es die Grünen gegenwärtig machen, dann haben sie dort - wo es konkret um Arbeitsplätze geht - aber keine Chance.
Das Gespräch führte Dietmar Telser, tagesschau.de