Freie-Wähler-Chef Aiwanger Im Landtag unter Druck, im Bierzelt gefeiert
Auch nach seiner Entschuldigung steht Hubert Aiwanger in der Flugblatt-Affäre unter Druck. Im Bierzelt in Aschau im Chiemgau merkte man davon wenig. Wie geht es weiter mit Bayerns Vize-Ministerpräsident?
Die Menge jubelt und applaudiert. Das Publikum im Bierzelt in Aschau im Chiemgau ist Hubert Aiwanger wohlgesonnen - auch nach den Vorwürfen gegen ihn im Zusammenhang mit einem antisemitischen Flugblatt, das vor 36 Jahren in seiner Schultasche gefunden wurde.
Sein Freie Wähler-Kollege Sepp Lausch begrüßt Aiwanger auf der Bühne als "den letzten und einzigen Politiker, der sich noch traut, das Maul aufzumachen". Er sei der Einzige, der noch "Rückgrat hat und sich nicht verbiegen lässt". Wieder brandet Applaus auf.
Dann legt Bayerns Vize-Regierungschef los. Wie immer das weiße Hemd hochgekrempelt, angriffslustig. Hier muss er nicht vom Blatt ablesen wie Stunden zuvor, als er vor der Presse ein kurzes Statement zu den Vorwürfen gegen ihn abgegeben hat. Im Bierzelt spricht Aiwanger wie üblich frei, ohne Redemanuskript. Er spult eine typische Wahlkampfrede ab, spricht vom Handwerk, den Waldbauern, den Häuslebauern, den normalen Leuten eben. Viele Themen seien in den vergangenen Jahren links liegen gelassen worden. Andere Parteien wären immer mehr nach links gerückt.
Wahlkampf, als wäre nichts gewesen
Die Vorwürfe gegen seine Person erwähnt er nicht und beendet seine Rede so: "Packen wir weiter an, lassen uns nicht unterkriegen. Gott beschütze Bayern." Zum Abschied gibt es noch ein Geschenk von den Rosenheimer Freien Wählern: einen Rückenprotektor - damit Aiwanger weiter Rückgrat bewahre.
Bayerns Vize-Regierungschef macht also weiter wie gewohnt. Die Unterstützung des Publikums spornt ihn an. Einige wenige Termine hatte er in den vergangenen Tagen abgesagt. Bei denen, die er wahrnimmt, sprechen Bürger ihm Mut zu und versichern: Sie stehen hinter ihm.
Aiwanger hat sich über die Jahre eine treue Anhängerschaft aufgebaut. Seit 2006 ist er Chef der Freien Wähler. 2008 führte er sie erstmals in den Landtag, 2018 dann in die Regierung - als kleiner Koalitionspartner der CSU.
Freie Wähler wittern politische Intrige
"Er ist einfach zu unbequem und zu erfolgreich", verteidigt Alexander Hold seinen Parteikollegen Aiwanger. Die ganze Lust an der Demontage sei sechs Wochen vor der Wahl sehr durchschaubar, sagt der frühere Fernsehrichter, der mittlerweile für die Freien Wähler im Landtag sitzt, nach einer Krisensitzung der Fraktions- und Parteispitzen.
Die Freien Wähler stehen geschlossen hinter Aiwanger, heißt es. Und das gelte weiterhin. "Er hat nochmals nachdrücklich erklärt und versichert, dass er nicht Verfasser des scheußlichen Pamphlets ist", teilte Fraktionschef Florian Streibl gestern Abend mit. "Wir sind froh, dass Hubert Aiwanger heute diesen Schritt aufrichtiger Reue und der Entschuldigung gegangen ist."
Ob die Freien Wähler mit dieser engen Rückendeckung nicht womöglich ihre liberalen Wähler verlieren, scheint derzeit kein Thema in der Partei zu sein. In früheren Debatten war das anders. Als Aiwanger ebenfalls im Kreuzfeuer stand und ihm nachgesagt wurde, Politik am rechten Rand zu machen, gab es stets Kritik aus den eigenen Reihen. In der Flüchtlingskrise 2015 etwa oder während der Corona-Pandemie, als Aiwanger sich als Impfskeptiker outete. Nach langem Zögern ließ er sich dann doch impfen.
Profit schlagen aus der Opferrolle
Jetzt hoffen die Freien Wähler darauf, am Ende sogar von der Flugblatt-Affäre zu profitieren. Wenn nichts Neues dazu kommt, wenn Aiwanger sich weiterhin in der Opferrolle vor seinen Anhängern präsentieren kann, ist das sogar möglich. "Überzogen" finden manche die Anschuldigungen. Andere sagen, was so lange her sei, sei jetzt nicht mehr relevant. Und sie wittern ein Komplott gegen Aiwanger, den "unbequemen, volksnahen" Politiker.
Das nutzt Aiwanger. Er bleibt bei seiner Strategie. Auch als er gestern Nachmittag vor der Presse ein kurzes Statement abgibt. Er bittet für mögliche Verfehlungen in seiner Jugend um Verzeihung: Falls er Gefühle verletzt habe, bereue er es zutiefst. "Alle Opfer des NS-Regimes, deren Hinterbliebene und alle Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit" bittet er um Entschuldigung. Zugleich betont Aiwanger aber erneut: Er sieht eine "politische Kampagne": Er solle "politisch und persönlich fertig gemacht werden".
Söder spielt auf Zeit
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bringt die Causa Aiwanger in eine Zwickmühle. Am Rande eines Wahlkampftermins heute Morgen sagt der CSU-Chef: "Die Entschuldigung ist notwendig und überfällig gewesen." Ob er weiter an Aiwanger festhält oder ihn entlässt, will Söder aber noch nicht entscheiden. Dazu müsse er abwarten, bis Aiwanger die 25 Fragen schriftlich beantwortet hat, die er ihm geschickt hat. Das soll laut Söder zeitnah geschehen. "Und zeitnah heißt am besten noch heute, im Laufe des Tages."
Der Ministerpräsident spielt auf Zeit. Ihm bleibt auch kaum etwas anderes übrig. Aiwanger in der momentanen Situation zu entlassen, wäre ein "Übermaß", sagte er am Dienstag und fügte dann allerdings hinzu: "Wenn nichts Neues dazu kommt." Er braucht stichhaltige Argumente, um Aiwanger rauszuschmeißen. Drängt er ihn in eine Opferrolle, könnten die Freien Wähler bei der Landtagswahl im Oktober sogar profitieren, befürchtet die CSU.
Druck aus Berlin wächst
Doch Söder muss sich auch so weit distanzieren, dass er nicht mit Aiwanger in den Abgrund gerissen wird. Er steckt also in einem Dilemma. Druck kommt auch aus Berlin. Es dürfe nichts vertuscht und verwischt werden, fordert der Kanzler Olaf Scholz. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, kritisiert Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen. Er schade damit der Erinnerungskultur in Deutschland.
Die Beweislage wird unterdessen immer unübersichtlicher. Es haben sich Mitschüler zu Wort gemeldet, die Aiwanger beschuldigen. Sie hätten gesehen, wie er damals im Klassenzimmer ab und zu den Hitlergruß gezeigt habe. Andere versichern, Aiwanger wäre nie in diese Richtung auffällig geworden. Einen Hitlergruß hätten sie von ihm nie gesehen.
Gleichzeitig werden Zweifel laut, ob wirklich der ältere Bruder Helmut der Verfasser der antisemitischen Hetzschrift war. Das passe nicht zu Helmuts damaligem Auftreten, berichtet etwa der "Spiegel". "Der ältere, Spitzname Heller, trug langes Haar, liebte Rockmusik und schrieb in der 12. Klasse eine Facharbeit über die Rolling Stones." Anders Hubert, genannt "Hubsi". Der "scheitelte sein Haar messerscharf" und verfasste eine Facharbeit über Max Müller, einen bayerischen Kampfflieger aus dem Ersten Weltkrieg.
Opposition macht sich Hoffnung
Und die Opposition in Bayern? Der kommt die Flugblatt-Affäre entgegen. Schon vor Monaten hatte Ministerpräsident Markus Söder verkündet, er wolle weiter mit den Freien Wählern zusammenarbeiten. Jetzt gerät die Koalition ins Wanken. Eine Chance für die Grünen? Das ist unwahrscheinlich. Söder betont immer wieder, dass es keine schwarz-grüne Regierung in Bayern geben wird. Die Grünen machen sich trotzdem Hoffnung. Nach der Wahl könnte das schon ganz anders ausschauen, vermuten sie.
Die AfD spielt bei der Koalitionsfrage keine Rolle. Mit ihr will keine der bayerischen Landtagsparteien zusammenarbeiten. Die FDP wäre für die CSU sicherlich der bequemste Partner, weil sie sich inhaltlich am nächsten sind. Allerdings ist fraglich, ob die Liberalen überhaupt wieder ins Parlament einziehen. Bleibt noch die in Bayern seit langem schwächelnde SPD. Die kam in Umfragen zuletzt auf neun Prozent und wäre für die konservativen CSU-Wähler sicherlich auch nicht gerade der Wunschpartner - aber zumindest noch annehmbarer als die bei vielen verhassten Grünen.
Keine Koalition ohne Aiwanger?
Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass die Freien Wähler nach der Wahl einfach ohne Aiwanger weitermachen und die Koalition mit der CSU so fortsetzen würden. Zwar heißt es jetzt noch aus Partei und Fraktion, es gehe nur mit ihm. Die Aussage von Fraktionschef Streibl, Aiwanger werde "immer irgendwie dabei sein", lässt aber auch Raum für Spekulationen. Möglich ist zum Beispiel, dass Streibl ins Kabinett aufrückt und Aiwanger Fraktionschef wird, sollte Söder Aiwanger nicht mehr auf der Regierungsbank dulden.
Die Freien Wähler geben zwar an, auch nichts dagegen zu haben, wieder in die Opposition zu gehen. Dass sie gefallen an der Regierungsarbeit gefunden haben, haben sie in den vergangenen Jahren aber oft genug betont. Schließlich haben sie dort die größten Gestaltungsmöglichkeiten. Und aus Freie-Wähler-Kreisen heißt es auch: "Hubert sagt immer, am Ende darf es nicht an mir liegen."
Doch bis zur Wahl in Bayern am 8. Oktober und anschließenden Koalitionsverhandlungen sind es noch ein paar Wochen - und die Causa Aiwanger geht weiter. Am nächsten Donnerstag hat der Landtag auf Antrag von Grünen, SPD und FDP eine Sondersitzung einberufen. Dann soll Aiwanger Rede und Antwort stehen. Ob Aiwanger noch davor seine Hausaufgaben macht und den Fragenkatalog beantwortet, ist offen. Allerdings wird fest damit gerechnet. So könnte er der Opposition Wind aus den Segeln nehmen.