Bilanz von Merkels Euro-Krisenpolitik Riskantes Retten auf Raten
Keine Transferunion, kein Geld ohne Sparkurs und Reformen - diese Linie verfolgt die Regierung Merkel offiziell in der Eurokrise. Doch die Liste der Kehrtwenden seit 2009 ist lang. Bislang profitiert Deutschland von der Euro-Rettung. Doch die Risiken sind enorm.
Am Abend der gewonnenen Bundestagswahl vor vier Jahren ging Angela Merkel sicherlich einiges durch den Kopf. Das Schicksal der Eurozone gehörte wahrscheinlich nicht dazu. Aber gerade mal drei Wochen später platzte die Bombe: Die griechische Regierung gestand ein, dass Athen bislang kräftig geschönte Haushaltsbilanzen nach Brüssel gemeldet hatte. Und die Bundeskanzlerin musste fürderhin einen Großteil ihrer Energie auf die Rettung der Währungsunion verwenden.
Die Zinsen für griechische Staatsanleihen schossen nach oben, das Land steuerte auf die Pleite zu und die griechischen Politiker schrien laut um Hilfe. Die Bundesregierung stellte sich erst einmal eine ganze Weile taub. Denn bei der Einführung des Euro war anders gewettet worden: "No bail-out" - kein Geradestehen für die Schulden anderer - so haben es die Deutschen in die Euro-Verträge hineinschreiben lassen.
Keine Transferunion - Merkels Mantra
Keine Vergemeinschaftung der Risiken, keine Transferunion - das ist auch heute - einige Dutzend europäische Krisentreffen später - das Mantra der Bundesregierung. In der Praxis hat Berlin aber doch so manche Dehnung dieses Grundsatzes akzeptieren müssen. Aber immer erst, wenn der Druck der Umstände und der Europartner zu groß geworden war.
Zuerst im März 2010: Da wurde Athen dann doch ein erstes milliardenschweres Hilfspaket zugesagt. Erst mal nur in Form bilateraler Kredite, um dem "Bail-out"-Verbot formal Rechnung zu tragen. Und gegen harte Auflagen. Außerdem bestand die Bundeskanzlerin darauf, dass der IWF als Kreditgeber und vor allem als Zuchtmeister mit ins Boot kommt. Auch Merkels Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte das anfangs für unnötig gehalten.
Aber die Hilfszusage an die Griechen konnte die Eskalation der Lage nicht mehr verhindern. Viel zu lange habe Berlin die Rettungsaktion hinausgezögert, so ließ sich schon damals ein großer Chor von Kritikern vernehmen. Und auf einmal stand nicht nur Griechenland am Abgrund, sondern der ganze Euro.
Krisenpolitik voller Kehrtwenden
So kam es zu dem dramatischen EU-Gipfel Anfang Mai 2010, an dessen Ende die Schaffung eines Rettungsschirmes beschlossen wurde, der Not leidende Eurostaaten mit Krediten vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren soll. Aus dem schnell zusammengeschusterten, vorläufigen EFSF wurde später der stabiler gebaute und auf Dauer eingerichtete ESM. Auch diese Verstetigung des Hilfseinsatzes war lange nicht im deutschen Sinne. Nun stehen 500 Milliarden Euro im Rettungstopf bereit. Die deutschen Steuerzahler haften davon schlimmstenfalls für fast 200 Milliarden.
Nach Griechenland mussten später auch noch Irland, Portugal, Spanien und Zypern von den Partnerstaaten gerettet werden. Und im Mai 2010 begann auch die Europäische Zentralbank damit, die Anleihen von Krisenstaaten aufzukaufen, um deren Kurse zu stützen. Das ist verdächtig nahe an der verbotenen Staatsfinanzierung. Aber die Bundesregierung hat diesen Tabubruch - im Unterschied zur Bundesbank - bis heute toleriert. Und noch einmal musste die Bundeskanzlerin nachgeben. Heftig bedrängt vom damaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti gab sie auf dem Juni-Gipfel 2012 das prinzipielle Okay für die direkte Rekapitalisierung von maroden Banken durch den ESM und für eine Bankenunion.
Retten, was noch zu retten ist
Seitdem versuchen Merkel und Schäuble zu retten, was zu retten ist - und zwar sowohl von der Währungsunion als auch von den deutschen Prinzipien. Es ist ein Drahtseilakt. Denn unerbittliche Finanzmärkte, abschmierende Volkswirtschaften und aufbegehrende Wähler können den Euro jederzeit aus der Balance bringen. Und es ist ein Stochern im Nebel. Viele Maßnahmen gingen nach hinten los (Schuldenschnitt für Griechenland), viele Pläne erweisen sich als wirkungslos (wer erinnert sich schon noch an die diversen Hebelmodelle für den Rettungsschirm und den Fiskalpakt). Viele Entscheidungen werden gar nicht oder nur halbherzig getroffen, weil die europäischen Regierungen gespalten sind.
Grob gesagt, stehen auf der einen Seite diejenigen, die die Krise durch eine größere Vergemeinschaftung der Risiken bezwingen wollen: Aufstockung des ESM durch einen größeren Einsatz und die Erteilung der Lizenz zum Gelddrucken, Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, gemeinsame Fonds für die Abwicklung von maroden Banken und für die Sicherung der Spareinlagen. Und auf der anderen Seite stehen die, die das für genau die falsche Medizin halten. In erster Linie müssten die einzelnen Staaten selbst handeln: die Haushalte konsolidieren und durch Reformen die verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit stärken. Man müsse an die Ursachen für die Probleme ran, betonte die Bundeskanzlerin auf jedem Gipfel.
Beruhigung eher durch EZB als durch Regierungen
Was bleibt als Bilanz nach knapp vier Jahren Krisenmanagement? Die Gefahr, dass der Euro zerbricht, scheint (vorerst) abgewendet. Das ist allerdings wohl weniger den Politikern zu verdanken als dem entschlossenen - und umstrittenen - Auftreten der Europäischen Zentralbank. In den Krisenländern gibt es erste vorsichtige Anzeichen für eine Stabilisierung der Lage. Allerdings auf sehr niedrigem Niveau.
Der mit den Rettungsprogrammen durchgesetzte drastische Sparkurs hat die Volkswirtschaften mehr als erwartet in den Abgrund gezogen - und die Bundeskanzlerin für weite Teile der Öffentlichkeit in diesen Ländern zur Buhfrau gemacht. Auch viele Politiker von dort stöhnen über Merkels Unnachgiebigkeit und Penetranz. Sparen und Reformieren - sie wollen es nicht mehr hören. Aber sie wissen auch: Ohne die deutsche Kanzlerin läuft nichts. Angela Merkel ist die unbestrittene Führungsfigur in Europa geworden. Auch, weil sie sich wohl am intensivsten von allen in die komplizierte Thematik eingearbeitet hat.
Niedrige Zinsen und hohe Haftungsrisiken
Und was merken die deutschen Steuerzahler von all dem? Bisher nicht viel. Die bisherige Fiskalbilanz ist sogar positiv. Für die Hilfskredite an die Krisenstaaten gab es Zinsen, die Bundesbank verdiente an den von ihr eigentlich abgelehnten Staatsanleihekäufen, und vor allem spart Finanzminister Schäuble Zinskosten in zweistelliger Milliardenhöhe, weil die Anleger in Krisenzeiten die sicheren deutschen Staatsanleihen sogar zum Nulltarif kaufen. Dem stehen hohe Haftungsrisiken in sogar dreistelliger Milliardenhöhe gegenüber - wenn einige oder alle Krisenstaaten die Kredite nicht zurückzahlen können oder wenn die von der EZB gekauften Staatsanleihen teilweise oder vollständig abgeschrieben werden müssen.
Sollte Merkel nach den Bundestagswahlen ein drittes Mal den Amtseid ablegen dürfen, dann weiß sie, dass die Eurokrise sie nicht loslassen wird. Auch weil so manche Entscheidung erstmal hintenangestellt wurde. Als erstes steht der Offenbarungseid in Sachen Griechenland an. Ohne ein drittes Hilfsprogramm und ohne einen weiteren Schuldenschnitt wird es wohl nicht gehen. Dieser Schuldenschnitt träfe dann erstmals die öffentlichen Gläubiger - also letztendlich die Steuerzahler. Und die Eurozone wird sich um die Ausgestaltung der Bankenunion zanken. Die miserable Lage des Bankensektors ist der große Unsicherheitsfaktor in der Eurokrise. Der Druck, gemeinsame europäische Behörden und gemeinsame Töpfe einzuführen, ist groß. Dann wird sich zeigen, ob Merkels rote Linien halten.
Ruhe möglicherweise trügerisch
Bisher konnte die Bundeskanzlerin - nicht vollständig, aber immerhin weitgehend - den Dammbruch zur Transferunion verhindern. Aber die derzeitige Ruhe in Sachen Eurokrise könnte sich schnell als trügerisch erweisen. Lunten glimmen viele: die permanente Regierungskrise in Italien, die stets vom Sturz bedrohten Regierungen in Athen, Madrid und Lissabon, die Reformunfähigkeit der Franzosen, die vielen Banken mit zu vielen faulen Krediten in ihren Büchern. Und dann muss die Entscheidung getroffen werden: Steht Deutschland doch für einen größeren Teil der Schulden der anderen gerade oder riskiert man das Auseinanderbrechen der Währungsunion - mit unüberschaubaren Folgekosten.