Kommunalwahl Thüringen Unfreiwillig Bürgermeisterkandidat
Im thüringischen Hirschberg ist der Bürgermeister nicht mehr zur Wahl angetreten. Weil niemand kandidiert hat, konnten die Wähler Wunschnamen auf den Wahlzettel schreiben. Zwei Männer müssen so nun in die Stichwahl.
Es ist der 18. Juli 1983: In der Bundesrepublik steht seit einem Jahr Helmut Kohl an der Spitze der Regierung. Im Städtchen Hirschberg in der DDR direkt an der innerdeutschen Grenze wird an diesem Tag Rüdiger Wohl hauptamtlicher stellvertretender Bürgermeister. Das bleibt er bis zur Wende, dann wird er Bürgermeister. 22 Jahre lang hauptamtlich, seit 2012 als Ehrenamtler.
Nach mehr als 40 Jahren als Vize und Chef im Rathaus wird die Ära Wohl in Hirschberg am 30. Juni enden. Der Dauerbürgermeister geht in den Ruhestand. Doch einen Nachfolger zu finden, ist äußerst schwierig. Beim ersten Wahlgang erwartete die 1.743 Wahlberechtigten ein leerer Stimmzettel - niemand hatte sich aufstellen lassen.
Warum will keiner Bürgermeister werden?
Ein kleines Barockschloss thront über Hirschberg, es gibt einen Kindergarten, eine Regelschule und ein Freibad. Feuerwehr, Fasching und Sport - das soziale Leben wird hier vor allem von Vereinen getragen, in denen viele Einwohner ehrenamtlich aktiv sind.
Der Mann mit dem höchsten Ehrenamt sitzt im Hirschberger Rathaus. Erst ab 3.000 Einwohnern darf eine Kommune in Thüringen entscheiden, ob sie sich einen besser bezahlten hauptamtlichen Amtsträger leisten möchte. In Hirschberg leben etwa 2.100 Menschen.
Viel Verantwortung, wenig Geld
Der Parteilose Wohl empfängt im Rathaus in seinem Büro, das er sich mit seinem Verwaltungsleiter teilt. Die Wege sollen so kurz wie möglich sein. Warum niemand sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin werden will? Wohl bringt es schnell auf den Punkt: Es liegt am Geld.
Genau 1.623 Euro Aufwandsentschädigung erhält der Bürgermeister einer Stadt mit 2.001 bis 3.000 Einwohnern in Thüringen im Monat. Brutto natürlich. Nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bleibt da nicht viel übrig. Ein Ehrenamt, quasi eine Freizeitbeschäftigung.
Nach mehr als 40 Jahren geht Rüdiger Wohl, Dauerbürgermeister von Hirschberg, in den Ruhestand.
Doch Hirschberg ist kein Schützenverein - der Bürgermeister hier ist Chef von knapp 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wohl sagt, auch sonst gebe es kaum Unterschiede zu den Aufgaben eines hauptamtlichen Bürgermeisters: "Die gleichen Aufgaben stehen an und die gleiche Verantwortung hast du. Bürgermeister bist du 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr, egal, ob es irgendwo zu Weihnachten brennt oder Hochwasser ist."
Es funktioniere eigentlich fast nicht, beruflich tätig zu sein und nebenbei ehrenamtlich Bürgermeister. Viel Verantwortung, wenig Geld - keine Tätigkeit für jedermann. Dass Wohl das Amt trotzdem ehrenamtlich führen konnte, liegt an den fast 30 Jahren, in denen er hauptamtlicher Bürgermeister beziehungsweise Vize war.
Für die erhält der Hirschberger eine Pension, von der er gut leben kann. Außerdem hatte er somit ausreichend Zeit für die Amtsgeschäfte. Eine besondere Situation, das weiß Wohl: "Ich habe immer scherzhaft gesagt, für das Nichtsmachen kriege ich Geld und meine Arbeit wird nicht bezahlt."
Erzwungen in die Stichwahl
Doch nun soll Schluss mit der Arbeit sein. Wohl hat Pläne für den Ruhestand: Ferienkinder betreuen, mehr Zeit mit der Familie verbringen, Rad fahren und den Garten auf Vordermann bringen.
Fast hätten die genau 1.081 Wähler in Hirschberg am 26. Mai Wohls Pläne durcheinandergebracht. Sie durften ihren Wunschkandidaten auf den Stimmzettel schreiben - ganz gleich, ob der wollte oder nicht. Bei der Auszählung stand Wohl lange Zeit auf dem zweiten Platz, erst am Ende wurde er noch überholt.
Glück für ihn, denn zwischen den beiden Erstplatzierten findet nun am 9. Juni eine Stichwahl statt. Kneifen dürfen sie nicht, aber nach der Wahl verzichten: Der Gewinner hat anschließend eine Woche Zeit, sich für oder gegen den Posten zu entscheiden.
Lokalpolitiker gegen Verwaltungs-Profi
Jetzt müssen Ronald Schricker und Benjamin Lill als Kandidaten geneinander antreten. Lill sitzt seit Jahren im Hirschberger Stadtrat und ist ehrenamtlich Erster Beigeordneter.
Schricker ist hauptamtlich in der Stadtverwaltung für die Kultur verantwortlich. Gewinnt Schricker, müsste er den Job aufgeben. Ein Bürgermeister darf nicht zugleich städtischer Mitarbeiter sein. Ob einer der beiden das Amt annehmen würde, ist unklar: Die Bitte um ein Gespräch schlugen beide aus.
Rüdiger Wohl hofft, dass der Wahlsieger das Amt annimmt. Lehnt er ab, müsste der frisch gewählte Hirschberger Stadtrat einen neuen Ersten Beigeordneten wählen, der das kommissarisch ausüben würde - ehrenamtlich natürlich.
Anschließend müsste innerhalb von drei Monaten eine neue Bürgermeisterwahl organisiert werden. Die Regeln wären die gleichen. Wenn niemand kandidiert, können wieder Namen auf den Wahlzettel geschrieben werden.
Ein ergebnisloser Wahlmarathon wäre fatal für die Kleinstadt: Unter dem bisherigen Bürgermeister waren in den vergangenen Jahren entscheidende Weichen für die Zukunft von Hirschberg gestellt worden. Um Fördermittel beantragen zu können, wurden Entwicklungskonzepte ausgearbeitet. So muss der Hochwasserschutz an der Saale erneuert werden. Aufwendige Pläne, die viel Arbeit bedeuten - bei dürftiger Kassenlage. Kaum machbar als ehrenamtliche Feierabendbeschäftigung.
In Bayern sind die kleinen Gemeinden freier
Dass es auch anders geht, zeigt der Blick ein paar Kilometer weiter. In Bayern liegt die Vorgabe für das Hauptamt bei 2.500 Einwohnern und ist weniger starr. Auch mit weniger Einwohnern können sich die Gemeinde- und Stadträte für einen Hauptamtlichen entscheiden.
Die bayerische Nachbargemeinde Berg hat gut 100 Einwohner weniger als Hirschberg, aber eine hauptamtliche Bürgermeisterin. Wohl erzählt, in Berg sorge es für Unverständnis, "dass der Kollege im Osten hier in Thüringen das ehrenamtlich macht".
Bundesland wechseln oder fusionieren als Ausweg?
Ein Wechsel Hirschbergs nach Bayern wäre viel zu kompliziert. Realistischer wäre ein Zusammenschluss mit den thüringischen Nachbargemeinden Gefell und Tanna. Gespräche gab es, eine Lösung nicht: Eine Verwaltungsgemeinschaft, eine Form der Zusammenarbeit selbstständiger Gemeinden in Thüringen, dürfen die drei Kleinstädte nicht bilden - der Freistaat stellte sich quer.
Eine Fusion zu einer großen Einheitsgemeinde scheiterte: zu viele unterschiedliche Meinungen und Ziele. Dauerbürgermeister Wohl sagt, zudem sei es schwierig, die Bürger dafür zu gewinnen: "Die politische Eigenständigkeit ist den Menschen wichtig."
Die Stichwahl am Sonntag wird eine Bürgermeisterwahl, wie sie kaum ein Hirschberger kennt. Schließlich hatte Rüdiger Wohl in seiner gesamten Amtszeit nicht einen Gegenkandidaten.