CDU-Politiker Kretschmer Rastlos im Dauerwahlkampf in Sachsen
In Sachsen liefern sich CDU und AfD in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Um sich zu behaupten, setzt die CDU auf die Beliebtheit des Ministerpräsidenten. Macht Kretschmers Dauerwahlkampf den Unterschied?
"Kretschmer hat doch allen Sachsen schon einmal die Hand geschüttelt: Das hab ich schon oft gehört. Aber wissen Sie was? Das macht mir gar nichts." Mit ernster Miene im weißen Hemd vor grauem Hintergrund mahnt CDU-Spitzenkandidat Michael Kretschmer im neuesten Instagram-Wahlspot: Es gehe um Sachsen.
2019 haben ihm dieses Prinzip des Zuhörens und sein rastloses Durch-das-Land-Reisen den Wahlsieg gebracht. Dieses Mal muss er noch mehr kämpfen. AfD und CDU liefern sich wieder ein Kopf-an-Kopf-Rennen in Sachsen, doch die Stimmung im Land ist noch aufgeheizter.
Darum befindet sich Kretschmer seit weit mehr als einem Jahr im Dauer-Wahlkampf. Die Zahl der Schlagzeilen und Interviews sind gerade seit Amtsantritt der Ampel enorm. Die Taktzahl der neuen Botschaften, Forderungen und Appelle, vor allem an die Bundesregierung, wird immer höher. Das Pensum der Termine im Land nötigt selbst Kritikern Respekt ab. "Ich kann nicht anders", sagt er im Wahl-Spot. Schulterzuckend fragt mancher im Dresdner Regierungsviertel: Was bleibt ihm jetzt anderes übrig?
Dauer-Mantra im Wahlkampf
Vor-Ort-Termin in "Blockhausen": Eine Art Freilichtmuseum im Erzgebirge, mit Kettensägen-Schnitzkursen, rustikalen Blockhütten und Abenteuerspielplatz mit mannsgroßen Holzfiguren, idyllisch mitten im Wald gelegen. Das Erzgebirge von seiner schönsten Seite. Hier, im Ort Dorfchemnitz, hat jeder zweite bei den Bundestagswahlen AfD gewählt. Hier nennt man Heimat Haamit und singt aus vollem Herzen mit, wenn das Steigerlied ertönt.
Unter den Klängen des Bergmusikkorps Saxonia Freiberg geht Kretschmer Richtung Bühne, begleitet von Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder. Etliche der fast 400 Besucher zücken die Handys. "Fang Du mal an, Micha", übernimmt Söder die Regie.
Es folgt Kretschmers Dauer-Mantra im Wahlkampf: Es gehe um Sachsen. Die Stärke Sachsens komme von der Stabilität der vergangenen Jahre. Seit der Wende regiert die CDU im Freistaat. Zuletzt allerdings mit zwei Partnern: Grünen und SPD.
Die bundespolitischen Themen dominieren
Die Strategie der Union: Sie setzt nahezu ausschließlich auf die Beliebtheit des Ministerpräsidenten. Dem jüngsten MDR-Sachsentrend zufolge wollen selbst mehr als 20 Prozent der AfD-Wähler lieber Kretschmer an der Spitze des Freistaates sehen als den eigenen Kandidaten. Hinter AfD-Landeschef Jörg Urban stehen laut Umfrage nicht einmal die Hälfte der AfD-Anhänger.
Doch reicht das in diesen Zeiten, in denen Wut und Enttäuschung überall greifbar sind? Allerorten bekommen die Wahlkämpfer zu spüren, dass es vor allem bundespolitische Themen sind, die die Menschen umtreiben: Ukraine-Krieg, Energiesicherheit, Migration. Und so geht es in der Rede Kretschmers auf der kleinen Bühne in "Blockhausen" vor allem auch darum: Die Energiewende sei gescheitert, die Energiepreise müssten runter, alles hänge mit Wirtschaft zusammen.
Es brauche eine Pflegereform, es könne nicht richtig sein, dass in Sachsen bei Durchschnittsrenten von 1.200 bis 1.400 Euro inzwischen mehr als jeder vierte auf Sozialhilfe angewiesen sei, sagt Kretschmer. Alle Krankenhausstandorte sollen erhalten bleiben, es folgt der Seitenhieb auf die dazu geplante Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. So gehe das nicht.
"So, wie wir sind, sind wir richtig"
Die Bürokratie aus Berlin, Lieferkettengesetz, Verbrennerverbot - es müsse Schluss sein mit zu viel Regulierung. Es brauche Dynamik und Freiheit. Bei der Migration müssen Kretschmer zufolge die Zahlen runter. "Wir haben die Ideen, wie das geht", sagt der Ministerpräsident. Bei Polizei und Lehrern habe man Wort gehalten, mehr eingestellt.
In Sachsen solle jeder nach seiner Fasson glücklich werden, sagt Kretschmer: "So, wie wir sind, sind wir richtig." Man wolle nicht die Menschen erziehen, sich nicht von Berlin vorschreiben lassen, wie man zu leben habe. Das kommt an, zumindest bei vielen.
Dann übernimmt Markus Söder und outet sich als Bayer mit Migrationshintergrund: Sein Opa kam aus Sachsen. Mehr Show, mehr Ampelschelte, mehr Bierzelt: "In jedem Dorf ist mehr Verstand als im Berliner Regierungsviertel." Mehr Applaus. Arbeitsteilung - Michael Kretschmer lächelt, nickt, klatscht. Er braucht jede Unterstützung.
Ein "Sturschädel", kein "Filialleiter von Berlin"
Nicht nur die Populisten des als rechtsextrem eingestuften AfD-Landesverbands machen ihm zu schaffen, auch das Bündnis von Sahra Wagenknecht (BSW) kommt in Sachsen aus dem Stand auf zweistellige Umfragewerte und belegt damit Platz Drei - gleich hinter CDU und AfD. Dafür rutschen SPD, Grüne und Linkspartei gefährliche nahe an die Fünf-Prozent-Grenze.
Dass Kretschmer in der Außenpolitik nicht seiner Meinung sei, respektiere er, streift Söder das Thema Ukraine und Waffenlieferungen nur kurz. Lobt Kretschmer als zuverlässigen Freund. Als einen, der auch sehr bockbeinig sein könne, wenn er von etwas überzeugt sei, ein "Sturschädel", der für sein Land kämpfe. Einer, der nicht "Filialleiter von Berlin" sei.
Eine wohl auch wahlentscheidende Botschaft für manchen Zuhörer. "Ich hab nichts gegen Kretschmer, aber der muss ja am Ende dann auch machen, was die in Berlin sagen." Der um die 50-jährige Mann im schwarzen Shirt, der das sagt, hat früher CDU gewählt. Bis 2015. Dass Kretschmer sich schon früh entgegen der CDU-Linie für Verhandlungen mit Russland, für einen Waffenstillstand ausgesprochen hat? "Ach, nur um hier Stimmen zu bekommen." CDU-Politiker allerdings, die das Thema mit Kretschmer diskutiert haben, sagen, es sei dessen tiefe Überzeugung.
Keine Koalition mit der AfD?
"Wenn die CDU mit der AfD regieren würde, dann würden die hier auch die Mehrheit bekommen. Aber das darf er ja nicht", sagt ein etwa gleichaltriger Mann, der neben dem Herrn mit dem schwarzen Shirt steht. Auch er ein ehemaliger CDU-Wähler.
Michael Kretschmer selbst betont stets, er wolle aus Überzeugung nicht mit der AfD koalieren. Nennt den thüringischen AfD-Landeschef Björn Höcke einen Neonazi und die Partei rechtsextrem. Macht aber immer den entscheidenden Unterschied: Nicht alle AfD-Wähler seien so.
Die beiden Männer hat Kretschmer in "Blockhausen" wohl nicht überzeugt. Dennoch gewinnt er auch dieser Anekdote etwas ab: "Ich finde das gut, dass diese Leute kommen. Offensichtlich ist da ja doch noch eine Erwartung an uns da." Es sei schon etwas gewonnen, wenn diese Menschen mit einer Nachdenklichkeit nach Hause gingen: "Wir dürfen nicht immer nur mit denen diskutieren, die die Dinge so sehen wie wir."
Eine Regierung ohne die Grünen
Die beiden ehemaligen CDU-Wähler sind nicht zu ihm persönlich gegangen, sie wollten kein direktes Gespräch. Auch der Rentner nicht, der aus ein paar Meter Entfernung beobachtet, wie sich eine Menschentraube um Kretschmer und Söder bildet. Ob ihn der Ministerpräsident überzeugt habe? Der sei schon nicht verkehrt, "aber nein". Er habe sich das Ganze hier nur mal anschauen wollen. Denn er mache sich um seine Enkel Sorgen, die meisten Parteien seien doch Kriegstreiber.
Alle würden AfD-Wähler nur beschimpfen, sagt er und regt sich über die Grünen auf. Dass Kretschmer in seiner Rede viel stärker und häufiger die Grünen als die AfD kritisiert hat, hat bei diesem Rentner nicht verfangen.
Bei vielen der anderen Zuhörer kam es sehr wohl gut an. Zumindest, wenn man den Applaus als Barometer nimmt. Kretschmer weiß das. Einerseits sagt er, man habe in der Koalition in Sachsen viel gemeinsam hinbekommen. Andererseits betont er bei jeder Gelegenheit, er wolle eine Regierung ohne die Grünen bilden.
Auch er setzt mitunter auf Populismus
Mit Blick auf die Umfragen braucht es dazu das BSW. Dazu sagt er am liebsten gar nichts. Eine Koalitionsaussage bekommt auch Sandra Maischberger in ihrer Fernsehsendung nicht, nur eine Vorstellung davon, wie sehr der unwirsch reagierende Ministerpräsident unter Druck steht. Er hält sich das offen, da helfen auch Nachfragen nichts. Politischer Pragmatismus. Es gehe um Sachsen, es gehe um Stabilität, dafür brauche es eine starke Union, dafür kämpfe er. Sein Mantra.
Das heftige Grünen-Bashing findet auch mancher in seiner Partei riskant. Was wenn es nach der Wahl die Grünen wieder zum Regieren braucht? Bei Kretschmer aber hat man längst den Eindruck, auch da geht es nicht mehr nur um Wahltaktik. Auch da geht es um seine Überzeugung.
"Seht ihr, so ist das immer", wendet er sich direkt ans Publikum bei der großen Wahlarena der drei sächsischen Regionalzeitungen in Dresden, als sich die grüne Justizministerin Katja Meier und der AfD-Mann Jörg Urban beim Thema Energiepolitik lautstark attackieren. "Ich bin die Mitte, ich bin die Vernunft, rechts und links nur Ideologen", so lautet sinngemäß seine Kern-Botschaft. Er überspielt, dass auch er mitunter auf populistische Äußerungen setzt, wie hier mit seiner Forderung nach kleinen Kernkraftwerken beispielsweise. In diesem Moment punktet er hörbar beim Publikum.
Jeder wird geduzt
So wie in persönlichen Gesprächen. In "Blockhausen" steht Kretschmer noch, als es dunkel wird, und redet. Da sind die meisten Gäste längst auf dem Heimweg, auch Söder. Hier eine Zigarette mit zwei Männern aus dem Musikkorps. Da noch ein "Blockhausener Vugelbeerschnaps" mit den Leuten vom Museum. Jeder wird gedutzt.
Nach einem gemeinsamen Bier verabschiedet sich ein großgewachsener Mann mit hiesigem Dialekt von Kretschmer: "Guter Mann! Weiter so!" Dann setzt der Regen ein. Der Ministerpräsident bekommt zum Abschied eine mit der Kettensäge geschnitzte Eule geschenkt. "Sie haben die Wahl" steht auf dem Schild, das der Eule unterm Flügel klemmt. Er hätte sie gern, die Wahl nach der Wahl.